Dunkle Materie

Rainer Kayser

Auf dem Bild sind vor dunklem Hintergrund viele leuchtende Galaxien zu erkennen, überlagert von einer wolkenartigen Struktur.

NASA/ESA/M.J. Jee

Rund achtzig Prozent der Materie im Universum bestehen offenbar aus einem unsichtbaren und bislang unbekannten Stoff. Physikerinnen und Physikern mangelt es nicht an Ideen, um was es sich dabei handeln könnte – doch bisher tappen sie noch im sprichwörtlichen Dunkeln.

Bereits in den 1930er-Jahren lieferten Himmelsbeobachtungen erste Hinweise auf Dunkle Materie. Der Physiker und Astronom Fritz Zwicky untersuchte damals den über 300 Millionen Lichtjahre von uns entfernten Coma-Galaxienhaufen – eine Ansammlung von mehr als tausend Galaxien. Ihn interessierte, wie schnell sich die einzelnen Systeme durch das gemeinsame Schwerefeld bewegen. Das Ergebnis verblüffte: Die gegenseitige Anziehungskraft der sichtbaren Materie reichte bei weitem nicht aus, so berechnete Zwicky, um den Galaxienhaufen bei den gemessenen Geschwindigkeiten zusammenzuhalten. Er müsste sich also eigentlich innerhalb kurzer Zeit auflösen.

Eine dunkle Lösung

Zwicky postulierte daraufhin die Existenz zusätzlicher Materie, die nicht sichtbar – also dunkel – ist, aber den Galaxienhaufen durch ihre zusätzliche Anziehungskraft stabilisiert. In der Fachwelt stieß die Vorstellung einer „Dunklen Materie“ zunächst auf vehemente Ablehnung. Das änderte sich in den 1960er-Jahren, als die Astronomin Vera Rubin eine weitere Entdeckung machte, die nicht ins klassische Bild passen wollte. In Spiralgalaxien ist die sichtbare Materie nicht gleichmäßig verteilt: Ihre Dichte ist in den Zentralregionen deutlich höher als in den Außenbereichen, weshalb die Umlaufgeschwindigkeiten der Sterne nach außen hin abnehmen müssten. Doch das ist, wie Rubin zeigte, nicht der Fall. Erklären ließ sich dieser Befund ebenfalls, wenn es in den Galaxien deutlich mehr Materie gäbe, als auf den ersten Blick zu erkennen.

Inzwischen stützen viele weitere astronomische Beobachtungen sowie theoretische Arbeiten diese Idee – und die meisten Physikerinnen und Physiker sind sich einig, dass es eine bisher unbekannte Materieform im Kosmos geben muss. Nach aktuellem Kenntnisstand dürften sogar rund 80 Prozent der gesamten Materie im Universum „dunkel“ sein, sich also durch keinerlei Strahlung verraten, sondern vor allem durch ihre Schwerkraft. Woraus diese Dunkle Materie besteht, ist bislang allerdings unklar.

Das Bild ist zweigeteilt, zeigt aber denselben Himmelsausschnitt: Vor dunklem Hintergrund sind viele leuchtende Galaxien zu erkennen, rechts überlagert von einer wolkenartigen Struktur.

Dunkle Materie in Galaxienhaufen ZwCl 0024+1652

Naheliegend war die Annahme, bei dieser zusätzlichen Materie handle es sich schlicht um große Gas- oder Staubwolken, die – etwa aufgrund sehr niedriger Temperaturen – keine elektromagnetische Strahlung aussenden. Doch alle Versuche, diese These zu untermauern, schlugen fehl. So müssten sich beispielsweise riesige Staubwolken bemerkbar machen, indem sie durch sie hindurchtretendes Sternlicht absorbieren. Und schließlich wären die erforderlichen Mengen an Gas und Staub so gewaltig, dass die Entstehung von Sternen anders verlaufen würde, als Astronominnen und Astronomen es beobachten.

Zudem spricht noch ein weiteres überzeugendes Argument dafür, dass sich Dunkle Materie und gewöhnliche Materie grundlegend unterscheiden. Mit kosmologischen Modellen lässt sich ziemlich genau berechnen, welche chemischen Elemente aus dem Urknall hervorgingen und in welchen Häufigkeiten. Die Werte hängen unter anderem vom Anteil der gewöhnlichen Materie an der gesamten Energie und Materie im frühen Kosmos ab. Hätte es damals hauptsächlich gewöhnliche Materie gegeben, müsste es im heutigen Universum weniger Deuterium – also schweren Wasserstoff – geben, als man beobachtet. Dunkle Materie bietet auch hier eine Lösung.

Auf der Suche

Theoretische Physikerinnen und Physiker schlugen bereits eine Reihe hypothetischer Elementarteilchen vor, aus denen die Dunkle Materie bestehen könnte. Ein Beispiel sind Axionen, die kaum Masse besitzen und neben der Gravitation auch über die elektromagnetische Kraft wechselwirken. Daneben gibt es auch vergleichsweise schwere Kandidaten wie die „Weakly Interacting Massive Particles“, also „schwach wechselwirkende massereiche Teilchen“, oder kurz WIMPs. Sie treten mit der gewöhnlichen Materie zusätzlich über die schwache Kraft in Wechselwirkung. Alle vorgeschlagenen Teilchen eint die Eigenschaft, dass sich ihr Nachweis extrem schwierig gestaltet. Weltweit gibt es zu diesem Zweck mittlerweile zahlreiche Experimente – bislang blieb die Suche nach den Partikeln der Dunklen Materie allerdings ohne Erfolg.

Nicht unerwähnt bleiben darf, dass es auch Physikerinnen und Physiker gibt, die einen anderen Ansatz verfolgen: Während die bisherigen Gravitationstheorien im Sonnensystem gut funktionieren und sich die Bahnen aller Himmelskörper damit sehr genau berechnen lassen, so ihr Argument, könnte es auf großen kosmischen Skalen zu Problemen kommen. Die etablierten Gesetze müssten deshalb derart angepasst werden, dass es neben der gewöhnlichen Materie keiner zusätzlichen Materie bedarf. Besonders weit entwickelt ist etwa die Modifizierte Newtonsche Dynamik, kurz MOND, in der die Äquivalenz von träger und schwerer Masse – ein Grundpfeiler der Allgemeinen Relativitätstheorie – bei sehr kleinen Beschleunigungen nicht gilt. Ob sich mit solchen alternativen Theorien tatsächlich alle Beobachtungen erklären lassen, ist allerdings umstritten.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/universum/dunkle-materie/




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