„Bauliche Strukturen beeinflussen seismische Wellen“

Denise Müller-Dum

Zwei Personen stehen auf einem Feld umgeben von mehreren Windkraftanlagen unter blauem Himmel

Marco Pilz/GFZ

Menschengemachte Gebäude sind durch Erdbeben besonders gefährdet. Erdbebenwellen können nicht nur große Zerstörung anrichten – sie werden auch selbst durch die urbanen Strukturen beeinflusst. Beispielsweise zeigten nun Experimente in einem Windpark in der Nähe von Berlin, dass seismische Oberflächenwellen bei bestimmten Frequenzen abgeschwächt werden können. Ein solcher Metamaterialien-Effekt ist bereits in anderen Bereichen der Physik bekannt; dabei können die Licht- oder Schallwellen in besonderer Weise abgelenkt oder überlagert werden. Wie die Experimente im Windpark abliefen und was die Ergebnisse zur Debatte über das Anthropozän beitragen, berichtet Marco Pilz vom Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ in Potsdam im Interview mit Welt der Physik.

Welt der Physik: Welche Rolle spielen urbane Strukturen bei der Ausbreitung von Erdbeben?

Porträt des Wissenschaftlers Marco Pilz

Marco Pilz

Marco Pilz: Urbane Strukturen sind besonders durch Erdbeben gefährdet. Dabei sind die sogenannten Rayleigh-Wellen in der Regel am gefährlichsten: Diese laufen an der Oberfläche entlang und sind mit Wasserwellen vergleichbar. Sie können eine sehr große Amplitude haben, die mit der Entfernung nur langsam abnimmt. Deswegen können Rayleigh-Wellen – ausgehend von einem sehr starken Beben – sogar mehrmals um die ganze Erde herumlaufen. Obwohl urbane Strukturen durch Erdbeben zum Schwingen angeregt und zerstört werden können, gibt es auch einen gegenläufigen Effekt: Gebäude können die ankommenden Erdbebenwellen zurückstrahlen; unter bestimmten Bedingungen können sich diese Eigenschwingungen dann abschwächen.

Wie kommt dieser Effekt zustande?

Wenn Oberflächenwellen auf ein Gebäude oder eine vergleichbare Struktur treffen, nimmt das Gebäude die Energie auf. Wenn die Frequenz der Oberflächenwelle der Resonanzfrequenz des Gebäudes entspricht, sendet dieses eine sogenannte Sekundärwelle aus. Diese Wellen können sich – wenn Strukturen mit sehr ähnlichen Resonanzfrequenzen dicht genug zusammenstehen – mit den eintreffenden Wellen so überlagern, dass es zu einer destruktiven Interferenz kommt. Das heißt, dass bestimmte Frequenzen ausgelöscht werden. Welche Frequenzen das sind, hängt von der Höhe der Strukturen ab. Wir sprechen bei diesem Phänomen auch von einem Metamaterialien-Effekt.

Was sind denn Metamaterialien?

Metamaterialien sind künstlich hergestellte Materialien, bei denen die Durchlässigkeit für verschiedene Wellenarten von natürlich vorkommenden Materialien abweicht. Das wird durch speziell angefertigte und angeordnete Strukturen erreicht: Diese bewirken, dass sich die Wellen in bestimmten Frequenzbereichen auslöschen, überlagern oder ablenken. Solche Metamaterialien wurden bislang vor allem für Licht- und Schallwellen entwickelt. So können beispielsweise Lichtwellen um ein Objekt herumgeleitet werden, wodurch eine Art Tarnkappen-Effekt entsteht. Die Analogie zu seismischen Wellen trägt allerdings nur bedingt. Denn man hat es bei Licht und Schall mit sehr kleinen Wellenlängen zu tun. Dementsprechend klein sind auch die Strukturen, mit denen man die Ausbreitung beeinflussen kann. Das ist bei seismischen Wellen und urbanen Strukturen anders. Und auch die Wellenart ist eine andere: Licht und Schall breiten sich im Raum aus. Die Art von seismischen Wellen, die wir betrachtet haben – die Rayleigh-Wellen – verläuft dagegen an der Oberfläche. Doch theoretische Studien haben gezeigt, dass der Metamaterialien-Effekt auch für seismische Oberflächenwellen auftritt. Das haben wir uns nun genauer in einem Windpark angeschaut.

Landkarte eines Windparks: oben inklusive der weiteren Umgebung, unten Karte des Windparks, auf der die einzelnen Turbinen regelmäßig angeordnet und durch Kreuze gekennzeichnet sind

Windpark in Nauen

Wie kamen Sie auf die Idee, den Effekt in einem Windpark zu untersuchen?

Kolleginnen und Kollegen aus Frankreich haben schon vor einigen Jahren den Effekt in einem Forst untersucht, wo Bäume gleicher Höhe in einem regelmäßigen Abstand zueinander standen. Dort haben die Forschenden natürliche, leichte Bodenschwingungen erfasst, die nicht von Erdbeben, sondern vom Wetter, durch Ebbe und Flut und auch durch menschliche Aktivitäten wie Verkehr oder Industrie erzeugt werden. Die Forschungsgruppen hatten damals den Metamaterialien-Effekt für Frequenzen bei etwa 50 Hertz nachgewiesen. Das ist aber nicht ganz der Frequenzbereich von Erdbebenwellen, für die wir uns letztlich interessieren. Wir haben deshalb nach größeren, relativ einfachen menschengemachten Strukturen Ausschau gehalten. Ein Windpark war da sehr naheliegend.

Und was haben Sie dann in dem Windpark gemacht?

Wir haben uns einen Windpark in Nauen bei Berlin angeschaut. Die einzelnen Masten sind dort um die 100 Meter hoch und regelmäßig angeordnet. Dazu muss man sagen, dass diese Regelmäßigkeit für Metamaterialien eigentlich nicht erforderlich ist – die Resonatoren müssen lediglich ausreichend dicht beieinanderstehen. Das war mit einem Abstand von 200 bis 400 Metern gerade so gegeben. Wir haben dann in diesem Windpark ein Gitter aus 400 seismischen Messstationen installiert, damit wir die Wellenausbreitung über den gesamten Windpark untersuchen konnten. Zum Vergleich haben wir auch Messgeräte außerhalb des Windparks aufgestellt. Dann haben wir über einen Zeitraum von zwei Wochen die natürlichen und immer vorhandenen Oberflächenschwingungen aufgezeichnet, dabei aber keine Erschütterungen selbst erzeugt. Für bestimmte Frequenzen – und zwar 0,25 Hertz, 1,4 Hertz und 13 Hertz – haben wir einen deutlichen Unterschied bei der Wellenausbreitung innerhalb und außerhalb des Windparks festgestellt: Wellen mit diesen Frequenzen wurden nämlich abgeschwächt.

Lässt sich mithilfe dieser Ergebnisse auch etwas über Erdbeben aussagen?

Ja, denn bei einem Erdbeben sind die Frequenzen der seismischen Oberflächenwellen ähnlich, die Schwingungen haben einfach eine größere Amplitude. Wenn man das Experiment in einer Region durchführen würde, wo die Gefährdung für Erdbeben höher ist, würde man das Gleiche sehen. Solch ein Experiment haben wir aktuell nicht geplant, das wäre aber sehr spannend.

Zeichnung einer Windturbine umrahmt von einigen mathematischen Formeln; rechts Grafiken verschiedener Luftwirbel

Windturbine

Heißt das im Umkehrschluss, dass man Städte so bauen könnte, dass sie vor Erdbeben besser geschützt sind?

In der Theorie, ja. In der Praxis wohl nicht. Unsere Städte existieren ja bereits und man wird sie jetzt nicht so umbauen können, dass sie erdbebensicher sind. Denkbar wäre vielleicht, dass man um bestimmte, besonders schützenswerte Gebäude eine Art Schutzstruktur errichtet.

Welche Bedeutung haben Ihre Ergebnisse darüber hinaus?

In der Vergangenheit ist man immer davon ausgegangen, dass Erdbebenwellen nicht durch den Menschen beeinflusst werden. Wir haben gezeigt, dass das sehr wohl der Fall ist. Das hat Auswirkungen auf unser Verständnis des Anthropozäns – also auf die geologische Epoche, in der der Mensch zunehmenden Einfluss auf die Erde genommen hat. Bislang war damit hauptsächlich der menschliche Einfluss auf das Klima der Erde gemeint. Nach unseren Erkenntnissen müssen wir den Begriff aber um eine Dimension erweitern: Menschen beeinflussen nämlich durch das Errichten baulicher Strukturen auch die Ausbreitung von seismischen Wellen.

Was wollen Sie als nächstes untersuchen?

Wir haben uns bislang mit einem relativ einfach strukturierten Windpark beschäftigt. Der nächste Schritt wäre dann, sich urbane Gebiete näher anzuschauen. Diese sind natürlich viel komplexer: Die Gebäude sind unterschiedlich hoch, haben unterschiedliche Grundrisse und Abstände. Wie eine richtige Stadt das seismische Wellenfeld beeinflusst, wollen wir zunächst mit Computermodellen und später dann auch mit Messungen untersuchen. Wo wir diese Messungen machen werden, haben wir allerdings noch nicht festgelegt.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/erde/erdinneres/erdbeben-bauliche-strukturen-beeinflussen-seismische-wellen/