ATLAS – ein Schlüsselexperiment zum Verständnis von Kräften und Materie
Die hochenergetischen Proton-Proton-Kollisionen im LHC werden von zwei gewaltigen Universaldetektoren aufgezeichnet, ATLAS und CMS. Das Augenmerk von ATLAS richtet sich dabei vor allem auf die Suche nach dem Ursprung der Teilchenmasse und nach neuer Physik jenseits des Standardmodells.
Am europäischen Forschungszentrum für Elementarteilchenphysik CERN in Genf steht der derzeit leistungsfähigste Teilchenbeschleuniger der Welt, der Large Hadron Collider, LHC. Dieser Beschleuniger ermöglicht es, in neue Energiebereiche und damit tiefer denn je in das Innere der Materie vorzudringen. In Abständen von 250 Nanosekunden (Milliardstel Sekunden) kollidieren hier Bündel von Protonen mit großer Intensität und einer Schwerpunktsenergie von 14 Teraelektronenvolt (TeV, Tausend Milliarden Elektronenvolt). Die in den Proton-Proton-Wechselwirkungen entstandenen Teilchen beziehungsweise deren Zerfallsprodukte werden von zwei großen Universaldetektoren, ATLAS und CMS, aufgezeichnet. Beide Experimente verfolgen ein ähnliches Physikprogramm und können ihre Ergebnisse somit gegenseitig überprüfen, was für die Bestätigung von neuen Entdeckungen unerlässlich ist. Die beiden Detektoren unterscheiden sich jedoch in ihrem Aufbau und damit in ihrer Herangehensweise an die unterschiedlichen physikalischen Fragestellungen. Das ATLAS-Experiment, das in diesem Artikel näher beschrieben wird, setzt dabei auf den größten Detektor, der je an einem Teilchenbeschleuniger realisiert wurde: Mit seinen 46 Metern Länge und 25 Metern Durchmesser ist er halb so groß wie die Kirche Notre-Dame in Paris.
Warum ein neuer Teilchenbeschleuniger?
In den letzten Jahrzehnten konnten in der Elementarteilchenphysik wesentliche Fortschritte im Verständnis der elementaren Bausteine der Materie und der fundamentalen Kräfte der Natur gemacht werden. Auf der theoretischen Seite gelang die Formulierung des so genannten Standardmodells, das drei der vier fundamentalen Wechselwirkungen, die elektromagnetische, die schwache und die starke Kraft, theoretisch beschreibt. Gestützt wird dieses Modell durch wichtige experimentelle Ergebnisse, die am CERN in Genf und in zahlreichen anderen Forschungszentren weltweit gewonnen werden konnten. Hierzu gehören beispielsweise die Beobachtung der W- und Z-Bosonen Anfang der 1980er Jahre. Diese stellen zusammen mit dem Photon die Vermittlerteilchen der elektroschwachen Kraft dar. Die entsprechende Theorie der elektroschwachen Wechselwirkung wurde von Sheldon Glashow, Abdus Salam und Steven Weinberg 1967 formuliert und ist Teil des Standardmodells. Wichtige Zusammenhänge dieses Modells konnten in den 1990er Jahren in Experimenten am Elektron-Positron-Speicherring LEP am CERN mit herausragender, zuvor nie erreichter Präzision getestet werden.
Obwohl alle experimentellen Ergebnisse von LEP konsistent mit dem Standardmodell sind, kann dieses nicht die endgültige Theorie der Elementarteilchen darstellen, sondern wird eher als eine effektive Theorie bei niedrigen Energien angesehen, die in einen größeren Rahmen eingebunden ist. Das Standardmodell enthält viele freie Parameter, wie zum Beispiel die Massen der Teilchen, die nicht aus fundamentalen Prinzipien ableitbar sind. Es lässt zudem wichtige Fragen offen, wie zum Beispiel die Frage nach dem Ursprung der Masse der Elementarteilchen und die Frage nach übergeordneten Theorien und Symmetrien.
Die Frage nach dem Ursprung der Teilchenmasse beschäftigt die Physiker heute am meisten. Vielleicht liefert die im Standardmodell enthaltene Idee vom Higgs-Mechanismus die Antwort. Danach ist der gesamte Raum von einem Higgs-Feld erfüllt, und durch eine Wechselwirkung mit diesem Feld erhalten Teilchen ihre Masse. Mit diesem Higgs-Feld ist mindestens ein neues Teilchen verbunden, das Higgs-Boson. Obwohl viele seiner Eigenschaften theoretisch vorhersagbar sind, ist ein experimenteller Nachweis an den bislang existierenden Beschleunigern noch nicht gelungen. Nach theoretischen Überlegungen sollte die Masse dieses Teilchens nicht größer als etwa 10.000 GeV (= 10 TeV) sein. Falls das Higgs-Boson in diesem Massenbereich existiert, wird es am LHC nachgewiesen werden können.
Eine weitere wichtige Frage der modernen Elementarteilchenphysik ist die Frage nach dem Ursprung und dem Zusammenhang der verschiedenen beobachtbaren Naturkräfte. Wir leben heute in einem Universum mit vier scheinbar unterschiedlichen Kräften, die auf Materie einwirken. Als das Universum jung und viel heißer war, haben sich diese Kräfte möglicherweise wie eine einzige Kraft verhalten. Die Teilchenphysiker hoffen, eine einzige theoretische Rahmenbeschreibung zu finden, die diese Vereinheitlichung enthält. Ein erster Teilschritt, die Vereinheitlichung der elektromagnetischen und der schwachen Kraft, ist bereits mit der oben erwähnten elektroschwachen Theorie von Glashow, Salam und Weinberg gelungen.
Viel Interesse findet heute auch eine als Supersymmetrie (siehe Artikel Supersymmetrie), oder kurz SUSY, bezeichnete Erweiterung des Standardmodells. In dieser Theorie wird jedem Teilchen des Standardmodells ein supersymmetrisches Partnerteilchen zugeordnet und damit die Zahl der Teilchen verdoppelt. Wenn supersymmetrische Teilchen in einem Massenbereich bis zu einigen TeV existieren, müssten auch sie am LHC gefunden werden.
Eine weitere Frage, bezüglich der am LHC neue Erkenntnisse gewonnen werden können, ist die Frage nach dem Ursprung der CP-Verletzung (siehe Artikel Das Spiegelbild ist nicht perfekt). Zur Untersuchung der CP-Verletzung im b-Quark-System wird neben den Experimenten ATLAS und CMS das LHCb-Experiment aufgebaut, das speziell hierfür konzipiert wurde.
Welche Antworten kann ATLAS geben?
Wie detaillierte, im Vorfeld durchgeführte Simulationen gezeigt haben, hat das ATLAS-Experiment das Potenzial, Antworten auf wichtige Fragen der modernen Elementarteilchenphysik zu geben. Dabei stehen die Suche nach dem Ursprung der Teilchenmasse und die Suche nach neuer Physik jenseits des Standardmodells im Vordergrund. Gleichzeitig kann ATLAS jedoch auch wichtige Beiträge zur präzisen Vermessung von verschiedenen Parametern des Standardmodells leisten. Da ATLAS als Universaldetektor konzipiert ist, der in der Lage ist, alle wesentlichen „Fußabdrücke“ – sogenannte Signaturen – der in den Proton-Proton-Kollisionen entstandenen Teilchen (Elektronen, Myonen, Taus, Jets und fehlende transversale Energie) mit hoher Effizienz nachzuweisen, ist das Entdeckungspotenzial auch für neue, exotische, nicht in heutigen theoretischen Erweiterungen vorgesehene Szenarien sehr groß.
Die Suche nach dem Higgs-Boson
Die Experimente am LHC müssen in der Lage sein zu klären, ob der Ursprung der Teilchenmasse durch den Higgs-Mechanismus erklärt werden kann. Dazu müssen die Experimente ATLAS und CMS ein Higgs-Boson über den ganzen möglichen Massenbereich, das heißt von der am LEP-Beschleuniger ermittelten unteren Grenze von etwa 1140 GeV bis zur oberen Grenze von etwa 10 TeV, überzeugend nachweisen können.
Am LHC werden die Higgs-Bosonen – falls es sie gibt – hauptsächlich über die Fusion von zwei Gluonen oder von zwei Vektorbosonen, also W- oder Z-Teilchen, erzeugt. Die Wirkungsquerschnitte dieser Reaktionen lassen sich im Rahmen des Standardmodells berechnen. Die Theorie sagt auch die Zerfälle der Higgs-Bosonen voraus, nach denen im Experiment gesucht werden muss.
Falls das Higgs-Boson mindestens so schwer ist, dass es wieder in ein Paar von Vektorbosonen zerfallen kann, dominieren diese Zerfallsprozesse. In diesem Fall ist ein Nachweis im ATLAS-Experiment relativ einfach, da nach Zerfällen der Vektorbosonen in verschiedene Leptonen gesucht werden kann. Da im Anfangszustand der Proton-Proton-Wechselwirkung keine Leptonen vorliegen, ist für diesen Endzustand der Untergrund an Reaktionen, welche diese Signatur eines Higgs-Bosons vortäuschen könnten, sehr klein. In diesem Fall kann das Higgs-Boson bereits nach einer relativ kurzen Laufzeit des Experiments mit einer hohen Signifikanz nachgewiesen werden.
Wesentlich komplizierter gestaltet sich der Nachweis für kleinere Higgs-Massen. Hier treten zum Beispiel Zerfälle in Paare aus einem b-Quark und -Antiquark auf. Diese Endzustandssignatur kann in den LHC-Experimenten allerdings nicht von den zahlreichen Untergrundreaktionen getrennt werden, die in diesem Fall überwiegen. Daher ist man für den Nachweis in diesem Massenbereich auf seltene Zerfälle des Higgs-Bosons zum Beispiel in zwei Photonen angewiesen.
Für die Suche nach dem Higgs-Boson haben die Studien klar gezeigt, dass das ATLAS-Experiment den gesamten relevanten Massenbereich abdecken kann. Sollte ein Standardmodell-Higgs-Boson mit einer Masse zwischen etwa 1000 GeV und 10 TeV existieren, so kann es klar mit einer hohen statistischen Signifikanz nachgewiesen werden. In vielen Bereichen ist der Nachweis sogar in mehreren Zerfallskanälen möglich.
Das ATLAS-Experiment ist nicht nur in der Lage, das im Rahmen des Standardmodells vorhergesagte Higgs-Boson zu finden. Auch die erweiterte Theorie des „minimal supersymmetrischen Standardmodells“ (MSSM) beinhaltet verschiedene Higgs-Bosonen. Wie Simulationen gezeigt haben, deckt ATLAS auch hier den gesamten möglichen Parameterraum ab.
Die Suche nach supersymmetrischen Teilchen
Falls es supersymmetrische Teilchen gibt, so würden am LHC vor allem so genannte Squarks und Gluinos erzeugt, die supersymmetrischen Partnerteilchen der Quarks und Gluonen. In bestimmten SUSY-Modellen – sogenannten R-paritätserhaltenden SUSY-Modellen – zerfallen diese Teilchen ihrerseits über Kaskaden in das leichteste supersymmetrische Teilchen. Diese Zerfallsketten führen zu Endzuständen mit mehreren Jets, Leptonen, b-Quarks, W- und/oder Z-Bosonen und fehlender transversaler Energie. Die Kombination von hohen Produktionsraten mit einer charakteristischen Signatur im Endzustand der Kollision ermöglicht dem ATLAS-Experiment, SUSY-Ereignisse klar von Standardmodell-Ereignissen zu trennen, so dass eine Entdeckung von SUSY-Teilchen bis zu Massen im Bereich von 2 bis 30 TeV bereits nach kurzer Laufzeit möglich sein wird. Im Rahmen der durchgeführten Studien konnte auch gezeigt werden, dass ATLAS genügend Kombinationen von SUSY-Teilchenmassen messen kann, um die Parameter des SUSY-Modells festzulegen oder zumindest stark einzuschränken.
Messungen von Standardmodell-Parametern
Im ATLAS-Experiment können außerdem wichtige Präzisionsmessungen von Parametern des Standardmodells durchgeführt werden. Aufgrund der großen Produktionsraten werden am LHC bereits bei kleinen Anfangsluminositäten, also Proton-Proton-Kollisionsraten, des Beschleunigers zahlreiche Paare von top-Quarks und -Antiquarks erzeugt. Für Zerfälle mit mindestens einem Lepton im Endzustand werden pro Jahr etwa 120.000 auswertbare Ereignisse erwartet, mit deren Hilfe die Masse des top-Quarks mit einer Genauigkeit von besser als 1,50 GeV bestimmt werden kann.
Auch im Bereich der elektroschwachen Physik können aufgrund der hohen Produktionsraten von W- und Z-Bosonen Präzisionsmessungen der W-Masse und weiterer Eigenschaften der W- und Z-Bosonen durchgeführt werden. Ziel ist hierbei, die Masse des W-Bosons mit einer Genauigkeit von etwa 150 MeV zu bestimmen.
Im ATLAS-Experiment können zudem bereits bei niedrigen Luminositäten präzise Messungen von wesentlichen Parametern der CP-Verletzung durchgeführt werden. Darüber hinaus kann nach seltenen Zerfällen von B-Mesonen in Endzuständen mit zwei Myonen gesucht werden.
Zusammenfassung
Wie die zahlreichen durchgeführten Studien zeigen, besitzt das ATLAS-Experiment das Potenzial, Antworten auf wichtige Fragen der Elementarteilchenphysik zu liefern. Es ist zu erwarten, dass in den kommenden Jahren am Large Hadron Collider am CERN in Genf richtungsweisende Entdeckungen gemacht werden können, die unser Verständnis der Natur grundlegend ändern können.
Welt der Physik/CERN CC by-nc-nd
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/experimente/teilchenbeschleuniger/cern-lhc/lhc-experimente/atlas/