Supraleiter
Redaktion
Inzwischen sind verschiedene Materialien bekannt, die elektrischen Strom verlustfrei leiten können. Solche Supraleiter versprechen viele technische Anwendungen – vor allem, wenn sie bereits bei Raumtemperatur ihren elektrischen Widerstand verlieren würden. Im Lauf der vergangenen Jahre näherten sich Physikerinnen und Physiker diesem Ziel immer weiter an. Manche wollen es sogar schon erreicht haben, aber es gibt Zweifel.
Am 8. April 1911 soll Heike Kamerlingh Onnes in sein Notizbuch geschrieben haben: „Kwik nagenoeg nul“ – „Quecksilber nahezu null“. Er hatte das Metall zuvor mit flüssigem Helium auf rund vier Grad über dem absoluten Nullpunkt abgekühlt, das entspricht minus 269 Grad Celsius. Der elektrische Widerstand, so zeigten es seine Messinstrumente an, schien unterhalb dieser Temperatur auf einmal zu verschwinden. Das Quecksilber leitete den elektrischen Strom also offenbar völlig verlustfrei. 1913 erhielt der Wissenschaftler für seine Arbeiten den Nobelpreis für Physik.
In den folgenden Jahrzehnten fanden sich viele weitere Materialien, in denen unterhalb einer bestimmten Temperatur – der sogenannten Sprungtemperatur – die von Onnes entdeckte „Supraleitung“ auftrat. Da dieses Phänomen zahlreiche technische Anwendungen versprach, war das Interesse groß. Ein Hindernis stellen aber die extrem niedrigen Betriebstemperaturen dar. Um Supraleiter eines Tages in größerem Maßstab nutzen zu können, etwa zur Stromübertragung, suchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler daher fieberhaft nach Stoffen, die ihren elektrischen Widerstand schon bei höheren Temperaturen verlieren – idealerweise bei Raumtemperatur.
Hochtemperatursupraleiter
Einen wichtigen Meilenstein erreichten Johannes Georg Bednorz und Karl Alexander Müller im Jahr 1986: Sie stießen auf eine Verbindung aus Lanthan, Strontium, Kupfer und Sauerstoff, die bereits bei minus 238 Grad Celsius in einen supraleitenden Zustand übergeht. Auch wenn dieser Wert noch fernab jeder Zimmertemperatur liegt, so hatten die beiden doch neue Wege für die Suche nach Materialien mit noch höheren Sprungtemperaturen eröffnet. 1987 wurden die beiden Wissenschaftler für ihre Entdeckung mit dem Physiknobelpreis ausgezeichnet.
Mittlerweile sind verschiedene Klassen von supraleitenden Materialien bekannt, die alle ihre Vor- und Nachteile mit sich bringen. Aus metallischen Supraleitern lassen sich beispielsweise Drähte formen, aber sie benötigen extrem tiefe Temperaturen. Die von Bednorz und Müller entdeckten keramischen Hochtemperatursupraleiter besitzen zwar höhere Sprungtemperaturen, sind aber recht spröde und lassen sich somit nur schwer verarbeiten – auch wenn dies inzwischen mit speziellen Verfahren durchaus gelingt. Das belegt beispielsweise ein Hochspannungskabel aus einer supraleitenden Keramik in der Innenstadt von Essen, durch das seit 2014 zuverlässig Strom fließt. Und auch andernorts kommen Supraleiter bereits zum Einsatz. Das gilt vor allem für supraleitende Magnetspulen, die gekühlt mit flüssigem Helium beispielsweise in Teilchenbeschleunigern oder in Kernspintomografen die benötigten ultrastarken Magnetfelder erzeugen. Für eine großflächige Anwendung ist die Technik aber nach wie vor zu teuer und aufwendig.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf dem gesamten Globus forschen daher weiterhin an neuen supraleitenden Substanzen, die bessere Eigenschaften aufweisen als die bisher bekannten Materialien. Schlagzeilen machten in den vergangenen Jahren insbesondere einige Metallhydride, das sind chemische Verbindungen aus Wasserstoff und einem Metall oder Übergangsmetall. So verkündete eine Gruppe um Mikhail Eremets am Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz im Mai 2019, dass Lanthanhydrid bei einem Druck von 170 Gigapascal – das entspricht mehr als dem millionenfachen Luftdruck – bereits bei etwa minus 23 Grad Celsius supraleitend wird. Bei Temperaturen also, die gewöhnliche Tiefkühltruhen erreichen können. 2015 hatte ein Team um Eremets bereits einen Rekord mit Schwefelhydrid aufgestellt, das den elektrischen Strom unter Hochdruck bei minus 70 Grad Celsius verlustfrei leiten soll.
Typischerweise suchen Physikerinnen und Physiker nach drei charakteristischen Merkmalen, um einen supraleitenden Zustand zu bestätigen. In den Hochdruckexperimenten ließ sich sowohl ein verschwindender elektrischer Widerstand als auch das Absinken der Sprungtemperatur in einem externen Magnetfeld messen. Das dritte Anzeichen war dagegen nicht nachweisbar: Ein Supraleiter verdrängt ein äußeres Magnetfeld vollständig aus seinem Inneren. Die Probe war mit zehn bis zwanzig Mikrometern einfach zu klein und das messbare Signal damit zu schwach, erklärten Eremets und sein Team, um diesen sogenannten Meißner-Ochsenfeld-Effekt mit heutigen Methoden zu detektieren.
Neue Rekorde
Im Oktober 2020 stellte ein Team um Ranga Dias von der University of Rochester in New York dann einen Supraleiter aus kohlenstoffreichem Schwefelhydrid vor, der unter einem Druck von 275 Gigapascal den elektrischen Strom angeblich schon bei 15 Grad Celsius verlustfrei leitet. Damit schien ein Durchbruch erzielt: Supraleitung bei Raumtemperatur. Nicht an den Experimenten beteiligte Fachleute übten allerdings Kritik an der Auswertung und Interpretation der Messdaten. Im September 2022 zog die Fachzeitschrift, in der die Studie damals veröffentlicht worden war, den Artikel tatsächlich wieder zurück. Die Autoren halten dennoch weiter an ihrer Arbeit fest.
Im März 2023 präsentierten die Wissenschaftler um Dias sogar ein weiteres Rekordmaterial. Gezielt mit Stickstoffatomen verunreinigtes Lutetiumhydrid weist der Gruppe zufolge schon unter vergleichsweise niedrigem Druck von einem Gigapascal und bei warmen 21 Grad Celsius supraleitende Eigenschaften auf. Bisher ließen sich die Ergebnisse nicht unabhängig reproduzieren und werden ebenfalls kontrovers diskutiert.
Für Aufsehen sorgte auch ein im Juli 2023 vorgestellter Supraleiter, der den elektrischen Strom angeblich bei Raumtemperatur und Normaldruck verlustfrei leitet. Bei dem verwendeten Material handelt es sich um eine chemische Verbindung aus Blei, Kupfer, Phosphor und Sauerstoff, LK-99 genannt. Ihre Ergebnisse hat die Gruppe um Sukbae Lee vom Quantum Energy Research Centre in Seoul zunächst auf der Plattform arXiv – ohne vorherige Begutachtung durch unabhängige Fachleute – und in einem fast unbekannten Journal in koreanischer Sprache veröffentlicht.
Aktuell versuchen Forschungsgruppen weltweit, die Ergebnisse zu reproduzieren, berichtet Karsten Held im Interview mit Welt der Physik. Bislang seien die Ergebnisse dieser Experimente aber widersprüchlich. Sollten sich die supraleitenden Eigenschaften von LK-99 bestätigen, wäre das eine wissenschaftliche Sensation. „Außergewöhnliche Behauptungen wie diese erfordern außergewöhnliche Beweise, und diese liegen aktuell nicht vor“, so Held. Der Wettlauf zum ersten Supraleiter bei Raumtemperatur scheint also noch nicht entschieden.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/materie/supraleiter/