COMPASS
Franziska Konitzer
Am seit 2002 laufenden COMPASS-Experiment, das am Europäischen Kernforschungszentrum CERN angesiedelt ist, beteiligen sich im Rahmen der Verbundforschung Gruppen aus Bochum, Bonn, Erlangen, Mainz, Freiburg und München. Diese konzentrierten sich anfangs auf den Aufbau des eigentlichen Experiments und steuerten unter anderem Elektronik, Detektoren und Datenerfassungssysteme dazu bei. Inzwischen leisten die Gruppen auch einen großen Beitrag zur Datenauswertung. So war zum Beispiel die Gruppe der TU München maßgeblich an der Bestimmung der Polarisierbarkeit des Pions beteiligt.
Bei COMPASS trifft ein hochenergetischer Teilchenstrahl auf ein ruhendes Ziel, wobei die Art des Teilchenstrahls und das Ziel selbst der jeweiligen Fragestellung angepasst werden können. Dadurch lässt sich mit diesem Experiment eine Vielzahl von Phänomenen erforschen: Die Wissenschaftler können sich sowohl auf die Suche nach neuen, exotischen Teilchen begeben als auch die Spinstruktur von Nukleonen untersuchen.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung förderte das Projekt im Zeitraum von Juli 2012 bis Juni 2015 mit insgesamt 3,77 Millionen Euro. In der kommenden Förderperiode erhalten die Universitäten Freiburg, Erlangen-Nürnberg, Bonn, Mainz und die TU München im Rahmen der Verbundforschung ebenfalls mehrere Millionen Euro für ihre Forschung.
Fördersumme: 3 770 000 €
Förderzeitraum: 01.07.2012 bis 30.06.2015
Förderkennzeichen: 05P12VFCC1, 05P12WECC1, 05P12PDCC1, 05P12PDCCA, 05P12UMCC1, 05P12WOCC1
Beteiligte Institutionen: Universität Freiburg, Universität Erlangen-Nürnberg, Universität Bonn, Universität Mainz, TU München
Projektseite: COMPASS
Bereits seit 2002 betreiben Wissenschaftler am Europäischen Kernforschungszentrum CERN mithilfe von COMPASS Teilchenphysik. Dabei lassen sie hochenergetische Teilchenstrahlen auf ein ruhendes Ziel wie etwa Wasserstoff treffen, um aus den anschließenden Streuprozessen Einblicke in die Eigenschaften derjenigen Elementarteilchen zu gewinnen, aus denen Neutronen und Protonen bestehen. Mehrere deutsche Universitäten sind im Rahmen der Verbundforschung am COMPASS-Experiment beteiligt.
Die Bausteine von Atomkernen, die Neutronen und Protonen, sind selbst keine elementaren – also unteilbaren – Teilchen: In den 1960er-Jahren fanden Physiker heraus, dass diese Nukleonen wiederum aus kleineren Teilchen, den Quarks, bestehen. Dabei enthält ein Nukleon je drei Quarks, die von der starken Wechselwirkung zusammengehalten werden. Ähnlich wie die elektromagnetische Kraft über Lichtteilchen, also Photonen, übertragen wird, gibt es auch bei der starken Wechselwirkung Austauschteilchen, die sogenannten Gluonen. Die Gluonen bilden gewissermaßen den Klebstoff – englisch „glue“, daher der Name – in einem Atomkern, da die Quarks sie untereinander austauschen und somit aneinander gebunden werden. Die Eigenschaften eines Nukleons wie etwa seine Masse oder seine Ladung entstehen aus dem Zusammenspiel der Eigenschaften von Quarks und Gluonen.
Da sich weder Quarks noch Gluonen frei außerhalb eines Atomkerns beobachten lassen, untersuchen Teilchenphysiker sie indirekt, indem sie Streuprozesse aus hochenergetischen Teilchenkollisionen rekonstruieren. COMPASS, kurz für Common Muon Proton Apparatus for Structure and Spectroscopy, ist ein solches Experiment, das seit 2002 am Forschungszentrum CERN betrieben wird.
Knapp 220 Physiker aus 13 Ländern sind an diesem Experiment beteiligt. Im Rahmen der Verbundforschung arbeiten auch deutsche Universitätsgruppen aus Bochum, Bonn, Erlangen, Mainz, Freiburg und München daran mit. Während die Wissenschaftler dieser Gruppen in den ersten Jahren das Experiment mit aufgebaut und dazu Detektoren, Elektronik und Datenerfassungssysteme beigesteuert haben, sind sie inzwischen stärker mit der eigentliche Datenerfassung sowie auf die Auswertung und Interpretation der Daten beschäftigt – denn diese ist kompliziert und kann zum Teil Jahre dauern.
„COMPASS nutzt für seine Experimente einen der drei Teilchenbeschleuniger am CERN, das Super Proton Synchrotron, kurz SPS“, erklärt Stephan Paul von der TU München, dessen Gruppe an COMPASS beteiligt ist. „Das SPS war bis Ende der 1980er-Jahre das Arbeitspferd am CERN und kann Protonen auf Energien von bis zu 450 Gigaelektronenvolt beschleunigen.“
Inzwischen dient das SPS mit seinen rund sieben Kilometern Umfang als Vorbeschleuniger für den großen Teilchenbeschleuniger LHC, liefert aber auch die für COMPASS nötigen Protonenstrahlen. Dabei wird der Protonenstrahl zunächst auf ein Stück Beryllium gelenkt. Bei den Wechselwirkungen entstehen Sekundärteilchen wie beispielsweise Pionen, die zum eigentlichen Experiment weitergeleitet werden, wo sie mit einem ruhenden Ziel, etwa einer Nickelscheibe oder Wasserstoff kollidieren.
Die Spinkrise
„Normalerweise wechselwirkt so ein Teilchenstrahl mit den Nukleonen im Ziel“, sagt Paul. „Aber wenn die Teilchenenergie hoch genug ist, sehen die Teilchen nicht mehr das Nukleon als Ganzes, sondern die Quarks und Gluonen, aus denen das Nukleon besteht.“ Die Wechselwirkungen zwischen Teilchenstrahl und dem Target können die Physiker mithilfe ihrer Detektoren rekonstruieren, die die Impulse sowie die Austrittswinkel der Kollisionstrümmer aufzeichnen.
„COMPASS wurde für zwei Fragestellungen gebaut“, sagt Paul. „Und die eine ist: Wie setzt sich der Spin eines Protons aus seinen Einzelteilen zusammen?“ Der Spin ist genau wie die Masse oder die elektrische Ladung eine physikalische Eigenschaft eines Teilchens. Er kann als sein Eigendrehimpuls verstanden werden, hat aber als rein quantenmechanische Eigenschaft genau genommen kein klassisches Gegenstück. Physiker beschreiben den Spin durch einen Betrag sowie durch eine Richtung: Er kann nach oben oder nach unten zeigen.
Eigentlich hatten Physiker erwartet, dass sich der Spin eines Protons ähnlich wie seine Ladung einfach aus der Summe der Spins seiner Quarks zusammensetzt. 1987 aber lösten am CERN durchgeführte Messungen die „Protonenspinkrise“ aus, denn sie zeigten: Die Quarkspins tragen kaum etwas zum Gesamtspin eines Nukleons bei.
Mithilfe von COMPASS überprüften die Teilchenphysiker theoretische Modelle, die besagten, dass stattdessen die Gluonen hauptsächlich den Spin des Protons erzeugen. Dafür beschossen sie Protonen mit Myonen. Diese Teilchen ähneln negativ geladenen Elektronen – bis auf ihre Masse: Myonen sind rund zweihundertmal massereicher als Elektronen. Im Experiment wurde der Spin der Myonen so ausgerichtet, dass er entweder parallel oder entgegengesetzt zum Protonspin zeigte. „Bei der Wechselwirkung zwischen Myon und Proton sind einige Prozesse darauf zurückzuführen, wie die Gluonen polarisiert sind, also ob ihr Spin parallel oder entgegengesetzt zum Protonenspin ausgerichtet ist.“
Jagd nach neuen Teilchen
Allerdings konnten auch diese Untersuchungen die Spinkrise nicht lösen: „Wir haben eine sehr viel geringere Gluonenpolarisation gemessen als von den Theoretikern vorhergesagt“, berichtet Paul. „Man weiß immer noch nicht, woher der Spin des Protons kommt. Noch aber sind die Gluonen nicht ganz aus dem Spiel.“
Aufgegeben haben die Forscher also nicht – denn alle vorhergegangenen Modelle und Messungen basierten auf der Annahme, dass der Spin der Teilchen in den Protonen entweder parallel oder entgegengesetzt zum Protonspin als Ganzes ausgerichtet sein müsste, um ihn zu erzeugen. Inzwischen zeigen aber neue theoretische Modelle die Möglichkeit auf, dass vielleicht doch die Quarks für den Spin verantwortlich sind. Wenn diese sich senkrecht zum Protonenspin bewegen, so die Überlegung, führen sie eine Art Kreisbewegung durch und erzeugen damit einen Drehimpuls.
Erste Hinweise darauf ergaben sich aus Messungen mit einer Ausrichtung des Protonspins senkrecht zum einlaufenden Myon. Die Kreisbewegung eines Quarks führt dazu, dass dieses auf der einen Seite dem einlaufenden Myon entgegenkommt und auf der anderen Seite von ihm wegläuft. Dieser Effekt überträgt sich dann charakteristisch auf die beobachteten Reaktionsprodukte, die im Spektrometer nachgewiesen werden.
„Dieser Drehimpuls könnte zum Gesamtspin des Protons beitragen“, so Paul. Für die neuen Messungen innerhalb der zweiten Phase des COMPASS-Experiments haben die Physiker deshalb den Spin ihres einfallen Teilchenstrahls senkrecht zum Protonenspin eingestellt und führen dazu derzeit neuartige Messungen mit einlaufenden Pionen durch.
Darüber hinaus wollen die Physiker mit COMPASS aber auch auf die Jagd nach neuen Teilchen gehen. „Es gibt innerhalb der Theorie der starken Wechselwirkung kein Verbot, dass alle Teilchen so sein müssen wie das Proton mit seinen drei Quarks oder das Pion mit seinen zwei Quarks“, sagt Paul. Es ist also durchaus möglich, dass es Teilchen mit mehr als drei Quarks gibt. Hypothetisch sind sogar Teilchen möglich, die rein aus Gluonen bestehen, also aus dem reinen Klebstoff, der die Quarks aneinander bindet: die sogenannten Gluonenbälle. Zwar war die Suche nach diesen Gluonenbällen bisher auch mit COMPASS erfolglos, dennoch konnten die daran beteiligten Teilchenphysiker vor Kurzem einen Erfolg verbuchen. „Wir haben einen Zustand gefunden, den bisher noch keiner gesehen hat und nach dem auch keiner gesucht hat“, sagt Paul.
Experiment mit der längsten Laufzeit
In den Kollisionstrümmern eines Pionenstrahls mit einem Ziel aus Wasserstoff fanden die Wissenschaftler die Signale dieses extrem kurzlebigen Teilchens, das negativ geladen ist und wohl die anderthalbfache Masse eines Protons hat. Seine Zerfallsspuren weisen darauf hin, dass es aus vier Quarks besteht und somit als sogenanntes Tetraquark einer ganz neuen Klasse von Teilchen angehören könnte. Bislang bestehen alle bekannten Teilchen, die der starken Wechselwirkung unterliegen, entweder aus drei Quarks wie etwa das Proton oder das Neutron, oder aus zwei Quarks wie das Pion. Da die Analysen der Zerfallsprodukte aber extrem komplex sind, möchten die Physiker derzeit noch nicht ausschließen, dass es sich bei ihrem Fund eventuell um etwas ganz anderes handelt, beispielsweise um die Spuren eines bekannten Teilchens, das Artefakte im Detektor erzeugt hat.
Im Rahmen dieser Untersuchungen haben die Wissenschaftler bei COMPASS auch die innere Struktur der Pionen untersucht und sind der Frage nachgegangen, inwieweit sich ein Pion unter dem Einfluss einen elektrischen Feldes deformiert, so wie es jede aus elektrisch geladenen Teilchen zusammengesetzte Materie tut. Durch die sehr sorgfältige Vermessung von gestreuten Teilchen bei gleichzeitigem Nachweis eine Lichtquants, welches ein Maß für das elektrische Feld ist, dem das Pion beim Streuprozess ausgeliefert war, konnten die Wissenschaftler die winzige Verformbarkeit des Pions bestimmen. „Der Messwert steht in hervorragender Übereinstimmung mit theoretischen Rechnungen und belegt somit, dass wir die Natur dieses Teilchens inzwischen korrekt verstanden haben“, sagt Stephan Paul.
Im Moment laufen bei COMPASS Messungen mit Pionenstrahlen: Der Betrieb des Experiments ist bis mindestens 2018 vorgesehen. Zu diesem Zeitpunkt wird es dann das Experiment mit der längsten Laufzeit am CERN sein.
Welt der Physik CC by-sa
Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/bmbf/physik-der-kleinsten-teilchen/compass/