„Wir müssten uns von den Flussufern zurückziehen“
Denise Müller-Dum
Ungewöhnlich starke Regenfälle führen seit August dieses Jahres zu katastrophalen Überflutungen in Pakistan. Die Folgen dieses Ereignisses sind besonders verheerend. Global betrachtet treten Hochwasserkatastrophen recht häufig auf und am stärksten betroffen ist Asien. Das zeigte eine Analyse von Hochwasserereignissen auf der ganzen Welt zwischen den Jahren 1985 und 2019. Warum es überhaupt zu solchen Ereignissen kommt, wie man sie vorhersagt und wie Gesellschaften sich schützen können, erklärt Bruno Merz vom Deutschen GeoForschungsZentrum im Interview mit Welt der Physik.
Welt der Physik: Wie konnte es zu den verheerenden Überschwemmungen in Pakistan im August 2022 kommen?
Bruno Merz: Der Sommermonsun in Pakistan ist relativ unregelmäßig, und es ist schwierig vorherzusagen, wann er einsetzt und mit welcher Intensität der Regen fällt. Im Sommer 2022 gab es in Pakistan Monsunniederschläge, die deutlich über dem normalen Niederschlag dieser Jahreszeit lagen. Die Folge war ein Hochwasserextrem mit immensen Schäden – eine Hochwasserkatastrophe.
Worin liegt der Unterschied zwischen einem Hochwasser, einem Hochwasserextrem und einer Hochwasserkatastrophe?
In der Hydrologie sprechen wir allgemein von Hochwasser, wenn temporär irgendwo auf dem Land Wasser steht, das dort nicht hingehört – also beispielsweise, wenn Flüsse über die Ufer treten. Ein Hochwasserextrem ist nicht ganz genau definiert, aber es handelt sich dabei um einen Wasserstand, der sehr selten eintritt – etwa einmal in hundert Jahren. Diese beiden Definitionen berücksichtigen noch nicht die Auswirkungen des Hochwasserereignisses. Von einer Hochwasserkatastrophe spricht man, wenn ein Hochwasserereignis große gesellschaftliche und ökonomische Schäden anrichtet.
Was verursacht Hochwasserereignisse?
Das kommt auf den Typ an. Es gibt die großräumigen Flusshochwasser, die nach langanhaltendem Regen auftreten können, wenn der Boden im Einzugsgebiet so nass ist, dass er kein Wasser mehr aufnehmen kann. Häufig wird das auch durch Schneeschmelze beeinflusst. Außerdem gibt es Sturzfluten: Dabei löst starker Regen sehr schnell ein Hochwasserereignis in einem Bach oder kleinen Fluss aus. Bei diesen Hochwassertypen spielen die Topographie und Vegetation eine Rolle. Waldboden kann zum Beispiel viel besser Wasser aufnehmen als ein bebautes Gebiet. Aber auch die Prozesse im Fluss sind wichtig: Wie schnell kann die Hochwasserwelle abfließen? Überlagert sie sich möglicherweise mit anderen Hochwasserspitzen aus den Nebenflüssen? Das ist ein sehr komplexes System. Und dann gibt es pluviale Überschwemmungen, die insbesondere in Städten eine Rolle spielen – da führt ein Starkregen schnell zu Überflutungen, wenn die Kanalisation das Wasser nicht mehr abführen kann.
Sie haben die Häufigkeit und Ursachen von Hochwasserkatastrophen untersucht. Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Wir haben dokumentierte Hochwasserereignisse auf der ganzen Welt zwischen 1985 und 2019 untersucht. Es gibt dafür spezielle Datenbanken, in denen solche Informationen systematisch gesammelt werden. Die haben wir analysiert: Wie groß war jeweils die Gefährdung – also wie hoch und wie ungewöhnlich war der Wasserpegel – und wie schlimm waren die Auswirkungen? Denn auch nicht extreme Hochwasser können bei fehlendem Schutz katastrophale Folgen haben! Unsere Analyse ergab, dass in diesem Zeitraum von 35 Jahren weltweit rund zweieinhalbtausend Hochwasserkatastrophen registriert wurden. Das sind im Schnitt rund 70 Hochwasserkatastrophen im Jahr.
Welche Regionen sind am stärksten davon betroffen und warum?
Ganz eindeutig ist Asien am stärksten betroffen. Das hat unterschiedliche Gründe: Erstens gibt es dort große Überschwemmungsflächen entlang der Flüsse, und zweitens leben dort viele Menschen. Die Leute sind teilweise gezwungen, in gefährdete Regionen zu ziehen, weil sie keine andere Option haben. Und dann kommt dazu, dass es dort wenige Schutzmaßnahmen gibt und Hochwasser deshalb große Schäden anrichten können.
Welche atmosphärischen Prozesse begünstigen die Entwicklung von Hochwasserereignissen?
Wenn viel Feuchtigkeit in der Atmosphäre ist und die Luft, beispielsweise durch Konvektion, angehoben wird, kommt es zu intensiven Regenfällen. Als Beispiel kann man die Wetterlage vor der Flut in Deutschland und einigen Nachbarländern im Juli 2021 betrachten. Damals waren die Temperaturen sehr hoch – auch die Wassertemperaturen der Ostsee und des Mittelmeeres. Deshalb ist viel Wasser verdunstet und die Atmosphäre konnte wegen der hohen Temperaturen auch viel Feuchtigkeit aufnehmen. Ein Tiefdruckgebiet ist dann sehr langsam über Europa gezogen und deshalb kam es zu diesen extremen Niederschlägen von teilweise über 150 Litern pro Quadratmeter in zwei Tagen. Zum Vergleich: Im Schnitt regnet es in Deutschland rund 800 Liter pro Quadratmeter im ganzen Jahr!
Wird es durch den Klimawandel häufiger zu solchen Wetterlagen und damit häufiger zu Hochwasserextremen kommen?
Durch den Klimawandel erhöht sich die Temperatur der Atmosphäre. Sie kann deshalb mehr Wasser aufnehmen – pro Grad Erwärmung etwa sieben Prozent mehr Wasser. Dadurch können Regenfälle intensiver werden. Die zweite, deutlich schwierigere Frage ist, wie sich globale Strömungsmuster verändern werden. Der sogenannte polare Jetstream ist ein Starkwindfeld, welches das Wetter bei uns maßgeblich beeinflusst – beispielsweise treibt der Höhenwind Hoch- und Tiefdruckgebiete über den Globus. Angetrieben wird der Jetstream durch das Temperaturgefälle zwischen der Arktis und den Tropen. Die Arktis erwärmt sich allerdings deutlich schneller als andere Regionen der Erde. Es gibt deshalb die Hypothese, dass das Temperaturgefälle kleiner und damit der Jetstream schwächer wird. Das würde dazu führen, dass Wetterlagen in den mittleren Breiten länger anhalten – längere Dürren, aber auch längere Regenfälle. Ich halte diese Hypothese für plausibel. Trotzdem ist es schwierig, allgemeine Aussagen zu treffen. Ob das Überflutungsrisiko steigt oder fällt, hängt stark vom Hochwassertyp und von der Region ab. So sagen Modelle eine steigende Hochwassergefährdung für Ost- und Südasien, Nordwesteuropa, Subsahara-Afrika, Nordrussland und bestimmte Regionen in Amerika voraus. In anderen Regionen hingegen nimmt das Hochwasserrisiko teilweise ab.
Wie gut lassen sich Hochwasserereignisse vorhersagen?
Hochwasser in größeren Flüssen lassen sich mittlerweile einige Tage im Voraus vorhersagen. Am Rhein reicht es beispielsweise schon, wenn man den Pegel flussaufwärts und die Pegel der Zuflüsse kennt. Dann lässt sich der Wasserstand flussabwärts sehr gut vorhersagen. Wenn das Einzugsgebiet kleiner wird, muss man den Flusspegel mithilfe der Niederschlagsmenge und der Beschaffenheit des Einzugsgebietes vorhersagen. Zu berechnen, wie eine Landschaft auf starken Niederschlag reagiert, ist deutlich schwieriger. Tatsächlich entwickeln wir hier am GFZ gerade ein Modell, mit dem man nicht nur Pegelstände vorhersagen kann, sondern Überflutungen in der Fläche – also zum Beispiel den Wasserstand und die Strömungsgeschwindigkeit an einem konkreten Ort, etwa einem Krankenhaus. Das könnte in Zukunft bei der Planung von Schutzmaßnahmen helfen.
Wie können sich Gesellschaften vor Hochwasserereignissen schützen?
Technischer Hochwasserschutz ist sehr wichtig – beispielsweise durch Deiche oder Rückhaltebecken. Die Niederlande sind hier ein absoluter Vorreiter. Dann gibt es den Punkt Raumplanung. Das wäre der effektivste Hebel, aber es ist leider auch der schwierigste: Wir müssten das Schadenspotential reduzieren, indem wir uns von den Flussufern zurückziehen, und zwar insbesondere dort, wo anfällige Nutzungen wie Wohngebäude auf eine hohe Hochwassergefährdung treffen. Αußerdem wäre es sinnvoll, die natürlichen Überschwemmungsflächen, die in Deutschland weitgehend verschwunden sind, zumindest teilweise wieder herzustellen. Ein weiterer Punkt ist das Katastrophenmanagement. Wann wird der Katastrophenfall ausgerufen, wann werden Gebäude evakuiert? Auch die Bürgerinnen und Bürger müssen das Hochwasserrisiko an ihrem Wohnort kennen und sie müssen wissen, was sie im Falle eines Falles zu tun haben.
Anmerkung der Redaktion: In der ersten Version des Artikels wurde berichtet, dass zwischenzeitlich ein Drittel der Landfläche Pakistans überschwemmt war. Aufgrund von abweichenden Zahlen anderer Quellen wurde der Teaser im November 2022 entsprechend korrigiert.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/erde/atmosphaere/klimaforschung/hochwasser-wir-muessten-uns-von-den-flussufern-zurueckziehen/