Die Kräfte der Gezeiten
Sven Titz, Hermann-Friedrich Wagner
Wenn sich am Strand das Wasser ganz langsam zurückzieht, dann hat der Mond seine unsichtbare Hand im Spiel – das weiß jedes Kind. Doch wie die Höhe und die Dauer der Gezeiten im Einzelnen zustande kommen, ist nur mit dem Zusammenwirken der Anziehungskräfte zwischen Erde und Mond sowie zwischen Erde und Sonne zu erklären. Auch die Neigung der Erdachse, die Neigung der Erdumlaufbahn zur Bahn des Mondes sowie die Geografie beeinflussen die Gezeiten.
Das Grundphänomen spielt sich jedoch zwischen Erde und Mond ab. Die Gravitationskraft des Mondes zerrt an der Materie des Planeten. Weil die Stärke dieser Kraft sich mit zunehmendem Abstand verringert, entstehen die Gezeiten.
Auf der Seite der Erde, die sich dem Mond zuwendet, ist die Gravitationskraft, die er auf die Erde ausübt, etwas größer als im Erdmittelpunkt. Die Erdkruste gibt diesem Kräfteunterschied kaum nach, aber das Wasser der Ozeane folgt dem Zerren der Mondgravitation – das Wasser bewegt sich zum Mond hin und bildet einen Flutberg.
Auf der entgegengesetzten Seite der Erde aber verhält es sich gerade umgekehrt. Dort ist die Anziehung des Mondes etwas geringer als im Erdmittelpunkt. Darum verliert dort das Wasser sozusagen den Boden unter sich und der Meeresspiegel hebt sich an – das Wasser bewegt sich also vom Mond weg und bildet einen zweiten Flutberg.
Die beiden Flutberge sind allerdings nicht genau gleich groß. Denn die Kraft, die das Auftürmen eines Flutbergs herbeiführt, ist auf der Seite, die dem Mond zugewandt ist, um sieben Prozent stärker als auf der Rückseite. Dieser Unterschied liegt daran, dass der Gradient der Gravitationskraft – der Grad ihrer räumlichen Änderung – nichtlinear von der Distanz abhängt: Die Stärke des Gradienten ist umgekehrt proportional zur dritten Potenz der Entfernung zweier Massen (während die Kraft selbst umgekehrt proportional zum Quadrat ist).
In den Bereichen zwischen den beiden Flutbergen tritt Ebbe, also Niedrigwasser, auf, denn von dort wird das Wasser in die Flutbereiche „weggezogen“.
Spielt für Ebbe und Flut nicht auch die Fliehkraft der Erde bezüglich des Erde-Mond-Systems eine Rolle? Immer noch wird sie häufig zur Erklärung des zweiten Flutbergs auf der mondabgewandten Seite herangezogen. Doch die Berücksichtigung der Fliehkraft macht die Erklärung nur umständlicher, ohne dass die Fliehkraft für das Zustandekommen der Gezeiten von Bedeutung wäre (siehe Infokasten).
Einfluss der Erddrehung
Dafür ist die Eigenbewegung der Erde, also die Drehung der Erde um sich selbst, äußerst wichtig für die Gezeiten, wie wir sie wahrnehmen – ohne Erddrehung könnten Flut und Ebbe nicht über die Erdoberfläche wandern, sondern wären an einen Ort fixiert. Weil sich aber der Mond in 27,3 Tagen um die Erde dreht, also 27,3 Mal langsamer als die Erde um sich selbst, wandert die Erdoberfläche sozusagen ständig unter den Flutbergen und Ebbetälern in östlicher Richtung davon. Der Flutberg bewegt sich also in westlicher Richtung um die Erde.
Die Kombination der Eigenrotation mit der vereinten Drehung von Erde und Mond bewirkt, dass es nicht genau 24 Stunden dauert, bis der gleiche Punkt auf dem Globus wieder dem Mond zugewandt ist und damit einen Flutberg aufweist, sondern etwas länger: 24 Stunden und 50 Minuten. Eine Tide – das ist der Zeitabstand zwischen Flut und Flut oder zwischen Ebbe und Ebbe – ist halb so lang: Sie dauert jeweils 12 Stunden und 25 Minuten.
Ohne Sonne keine Springflut
Um das Phänomen von Ebbe und Flut zu verstehen, muss neben dem Mond auch der Einfluss unseres anderen nahen kosmischen Begleiters bedacht werden. Denn das Zentralgestirn beeinflusst durch seine Gravitationskraft die Gezeiten in ähnlicher Weise wie der Mond – wenn auch weniger stark. Die Anziehungskraft, die die Sonne auf die Erde ausübt, ist aufgrund der großen Sonnenmasse zwar ungefähr 200 Mal so groß wie die des Mondes, aber weil die Sonne etwa 400 Mal so weit von der Erde entfernt ist wie der Mond, ist die Gezeitenkraft der Sonne (der Gradient ihrer Gravitationskraft) kleiner als die des Mondes. Denn der Gradient der Gravitation fällt schneller mit dem Abstand ab als die Kraft. Darum beträgt die Gezeitenkraft der Sonne im Vergleich mit unserem Trabanten nur 46 Prozent.
Je nachdem, wie Sonne, Mond und Erde zueinander positioniert sind, verstärkt die Sonne die Gezeiten oder schwächt sie ab. Besonders wichtig sind die beiden Konstellationen, bei denen alle drei Himmelskörper auf einer Linie stehen, also Neu- und Vollmond. Dann verstärken sich die Gezeitenwirkungen von Sonne und Mond, und es gibt Springtiden mit einem besonders hohen Flutberg und einer besonders niedrigen Ebbe (siehe den Artikel in „Physik hinter den Dingen“ zur Springflut). Bei Halbmond hingegen gleichen sich beide Einflüsse zum Teil aus. Es kommt zu Nipptiden mit nur schwach ausgeprägter Flut und Ebbe.
Die Gezeiten und die Küste
Wer bereits ein paar Meeresküsten der Welt bereist hat, weiß natürlich, dass die Gezeiten nicht überall gleich stark sind. Im Mittelmeer ist der Tidenhub mancherorts kaum wahrzunehmen, während der Unterschied zwischen Flut und Ebbe an der Nordsee mehrere Meter beträgt. Die Ursache für diese Differenzen ist in der Geografie zu suchen.
Schon allein die Verteilung der Kontinente führt zu Hindernissen und wirkt sich damit auf die Bewegungen des Wassers aus. Auch die Tiefe und die Form der Ozeane beeinflusst die Gezeiten. Aus der Sicht der Physik hat man es rund um den Globus mit einem System erzwungener Schwingungen in miteinander verbundenen Wasserbecken zu tun. Dies kann je nach geografischen Gegebenheiten sogar zu Resonanzerscheinungen führen, die den Tidenhub aufschaukeln. Kleine Randmeere auf den Kontinentalsockeln (Kontinentalschelfen) wie zum Beispiel die Nordsee sind an diese Schwingungen angekoppelt. Das hat zur Folge, dass die Stärke der Gezeiten in solchen Gebieten der Erde oft weitgehend von diesen Schwingungen erzeugt wird.
Inmitten großer Ozeane wie des Pazifiks erreicht der Tidenhub nicht einmal einen Meter. Nur in der Nähe von Festlandküsten werden starke Gezeiten beobachtet. Mit kleiner werdender Wassertiefe sinkt nämlich die Geschwindigkeit der Gezeitenbewegung – gleichzeitig steigt aber der Tidenhub. Auch die Form der Küste beeinflusst die örtliche Ausbildung der Gezeiten stark. Dadurch kann es zu Schwankungen der Tidenunterschiede von wenigen Zentimetern bis weit über zehn Meter kommen. Den Rekord hält die Bay of Fundy im Osten Kanadas: Dort erreicht die Differenz zwischen Flut und Ebbe bis zu vierzehn Meter.
Wie die Erdneigung Ebbe und Flut verzerrt
Die Erklärung der Gezeiten wird noch ein bisschen vertrackter, wenn man in Betracht zieht, dass die Erdachse geneigt und die Mondbahn relativ zur Erdbahn gekippt ist. Dies ruft bei Ebbe und Flut Asymmetrien hervor. Denn die Flutberge liegen zwar immer auf der Verbindungslinie Erde–Mond, doch diese Linie führt nicht unbedingt durch den Äquator. Der Mond kann sich bei seiner Zugbahn über den Himmel bis zu 28,7 Grad vom Himmelsäquator entfernen. Deshalb wechseln auch die Flutberge periodisch ihre Lage zum Äquator.
Die Gezeiten und die Zentrifugalkraft
In vielen Erklärungen der Gezeiten taucht die Fliehkraft auf, die durch die Bewegung der Erde um den gemeinsamen Schwerpunkt mit dem Mond entsteht. Die Fliehkraft wird auch Zentrifugalkraft genannt und ist im Allgemeinen eine Scheinkraft innerhalb eines rotierenden Bezugssystems. Wie man im Folgenden sehen wird, ist diese Fliehkraft an jedem beliebigen Punkt der Erde gleich groß. Das klingt zunächst einmal ziemlich verblüffend, wenn man sich vorstellt, wie das Erde-Mond-Duo durchs All wirbelt – aber es ist tatsächlich so. Vielleicht rührt die Irritation daher, dass die Bewegung der Erde um ihren gemeinsamen Schwerpunkt mit dem Mond manchmal fälschlich als eine Rotation bezeichnet wird. Der richtige Begriff wäre aber „Umwälzbewegung“ oder „Revolution ohne Rotation“. Diese wird hier unabhängig von der Drehung der Erde um sich selbst betrachtet.
Vernachlässigt man die Eigenrotation unseres Planeten, dann folgen im Erde-Mond-System alle Punkte der Erde, ob an der Oberfläche oder im Erdinnern, einer Kreisbewegung mit der gleichen Kreisbahn, dem gleichen Radius und der gleichen Geschwindigkeit (siehe Abbildung). Einzig und allein die Mittelpunkte der Kreisbewegung unterscheiden sich. Wenn man sich im Erde-Mond-System mitbewegt, nimmt man an jedem Punkt die Fliehkraft (Zentrifugalkraft) wahr. Die Scheinkraft muss bei der Berechnung der Gezeitenkräfte in dem rotierenden Bezugssystem natürlich berücksichtigt werden, spielt aber im Grunde für die Entstehung der Gezeiten keine Rolle. Entscheidend sind die Gravitationskräfte. Es ist darum günstiger, das Geschehen im nicht rotierenden Bezugssystem zu betrachten, wie es im Hauptartikel nachzulesen ist.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/erde/atmosphaere/meere/gezeiten/