Riesenwellen auf dem Meer
Lange dachten Forscher, vom Wind aufgepeitschte Meereswellen könnten kaum höher werden als 15 Meter. Doch sie irrten sich. Heute weiß man, dass Riesenwellen überraschend häufig auftreten. Die sogenannten Freak Waves überragen die umgebenden Wellen um ein Vielfaches. Bis zu 35 Meter hoch können sie sich auftürmen. Die Entstehung der ozeanischen Riesen ist umstritten. Es gibt mehrere mögliche Mechanismen.
Die zahlreichen Berichte von Riesenwellen, die sogar große Schiffe im Nu versenkt haben sollen, sind nichts als Spinnerei – so dachten früher viele Wissenschaftler. Laut Statistik der Lehrbücher konnte es sich bei den Ereignissen nur um extreme Ausreißer handeln. Doch nach dem 1. Januar 1995 änderte sich die Auffassung: An dem Tag wurde bei der Gasplattform Draupner vor der norwegischen Küste eine 26,5 Meter hohe Woge registriert, während die höchsten Wellen ringsum vom Tal bis zum Wellenkamm nur ungefähr 11 Meter maßen. Von dieser Messung und weiteren Beobachtungen weiß man, dass Riesenwellen wesentlich häufiger auftreten als früher angenommen. Nun versuchen Forscher herauszufinden, wo und wann man mit den Wellenungetümen rechnen muss und wie sie entstehen.
Im Englischen sind die gigantischen Wogen unter der Bezeichnung „Freak Waves“ bekannt. Mit den Tsunamis haben sie nichts zu tun – während diese anfänglich sehr langen und flachen Wellen, die meist von Seebeben erzeugt werden, sich erst an den Küsten auftürmen, brechen Freak Waves gerade auf dem offenen Ozean über Schiffe herein.
Eine physikalische Definition von Freak Waves gibt es nicht. Denn noch weiß niemand, wie das Phänomen genau entsteht. Das erklärt Wolfgang Rosenthal von der Gesellschaft für Angewandten Umweltschutz und Sicherheit im Seeverkehr in Bremen – der Physiker befasst sich mit den Riesenwellen schon seit vielen Jahren. In Fachkreisen habe sich eingebürgert, eine Welle, die mehr als doppelt so hoch ist wie die „signifikante Wellenhöhe“, als Freak Wave zu behandeln, sagt Rosenthal. Als signifikante Wellenhöhe bezeichnet man die Durchschnittshöhe desjenigen Drittels der Wellen mit der größten Wellenhöhe.
Der Schätzung einer Schifffahrts-Beratungsfirma zufolge sanken zwischen 1969 und 1994 weltweit mehr als 22 größere Frachter nach Konfrontationen mit Freak Waves – 525 Menschen kamen dabei ums Leben. Auch in den letzten Jahren gab es spektakuläre Fälle: Viel Aufsehen erregt hat in Deutschland das Zusammentreffen der MS Bremen mit einer Riesenwelle im Februar 2001 im Südatlantik. Das Kreuzfahrtschiff, dessen Brücke zerstört wurde, entging nur knapp dem Untergang. Selbst im Mittelmeer kann es gefährlich werden. Am 3. März 2010 starben auf dem Kreuzfahrtschiff Louis Majesty zwei Passagiere, als drei Wellen, bei denen es sich möglicherweise um Freak Waves gehandelt hat, die Fenster zu einem Salon durchschlugen.
Die Louis Majesty könnte den sogenannten „Drei Schwestern“ begegnet sein. Diese typische Abfolge dreier Freak Waves ist schon oft beobachtet worden. Riesenwellen tauchen aber auch alleine auf. Viele Augenzeugen beschreiben sie als einzelne Wasserwand, die sich wie aus dem Nichts vor ihnen aufgebaut habe. In anderen Fällen war die Welle schon von Weitem zu sehen. Ob es sich bei diesen unterschiedlichen Erscheinungsformen um das gleiche physikalische Phänomen handelt, ist noch unklar. In Fachkreisen werden mehrere Mechanismen für die Entstehung von Freak Waves gehandelt, wie Rosenthal erläutert. Der Ausgangspunkt ist in allen Fällen der vom Wind erzeugte Seegang.
Meeresströmungen können Wellen wie ein Brennglas auf einen Punkt fokussieren. Das passiert zum Beispiel im Golfstrom, im Kuroshio vor Japan und im Agulhasstrom vor Südafrika. Besonders wenn die Wellen gegen die Strömungsrichtung des Wassers wandern, steigt das Risiko von Freak Waves.
Zur Entstehung von Riesenwellen können auch Unebenheiten des Meeresbodens führen, denn Wellenlänge und -höhe sind physikalisch an die Wassertiefe gekoppelt. Dieses Prinzip ruft an Stränden die Brandung hervor. Unter bestimmten Umständen können Untiefen die Wellen ähnlich fokussieren wie Strömungen.
Die dritte Hypothese ist kompliziert und beruht auf nichtlinearen Wechselwirkungen zwischen den Wellen. Auf hoher See hat man es nicht mit Wellen einer einzelnen Frequenz, Höhe und Geschwindigkeit zu tun, sondern mit einem ganzen Spektrum unterschiedlichster Formen. Dabei kommt es zum einen zu linearen Effekten wie der konstruktiven und destruktiven Superposition, die Wellen reagieren zum anderen aber auch auf nichtlineare Weise miteinander. Aufgrund von Computersimulationen und Experimenten in Wassertanks nehmen Meeresforscher an, das sich dabei Freak Waves bilden können, die den sogenannten Solitonen ähneln. Ein Soliton ist ein besonders stabiler, nichtlinearer Wellentyp.
Noch relativ wenig erforscht ist die vierte Hypothese, wonach eine spezielle Wechselwirkung der Wellen mit dem Wind Riesenwellen hervorbringen könnte – nämlich dann, wenn kleinräumige Hochwindgebiete mit der Gruppengeschwindigkeit einer Wellengruppe wandern.
Die Enstehungsmechanismen müssen also weiter erforscht werden. Indes sei in den letzten Jahren damit begonnen worden, versuchsweise Warnungen vor Freak Waves herauszugeben, berichtet Rosenthal. Zum Beispiel produziert das Europäische Zentrum für Mittelfristige Wettervorhersage im englischen Reading globale Vorhersagen des Wellengangs, in denen die Wahrscheinlichkeit von Freak Waves berechnet wird. Fortschritte gibt es auch bei der Beobachtung der Riesenwellen. Radarsatelliten wie der TerraSAR-X vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt vermögen den Seegang mit einer Auflösung von 1 bis 6 Metern zu scannen. Doch für eine Detektion, die zu brauchbaren Warnungen ausreichen würde, müssten solche Satelliten ein größeres Gebiet abdecken und häufiger die gleiche Gegend überfliegen, als es derzeit der Fall ist. So bleibt Seeleuten bisher nichts anderes übrig, als Gegenden mit besonders hohem Wellengang, in denen Freak Waves auftauchen könnten, vorsichtshalber zu meiden.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/erde/atmosphaere/meere/monsterwellen/riesenwellen/