Wetterwechsel aus der Stratosphäre
Sven Titz
Die Stratosphäre ist eine Luftschicht, die hoch über den Wolken beginnt. Lange Zeit glaubten Meteorologen, wegen der dünnen Luft und der stabilen Schichtung (siehe Kasten) greife die Luftschicht nicht ins Wettergeschehen ein. Doch um das Jahr 2000 herum wurde Forschern klar, dass sich Veränderungen in der polaren Stratosphäre abwärts – in die Troposphäre hinunter – fortpflanzen können. Dieser Prozess dauert von einigen Tagen bis hin zu mehreren Wochen.
Genauso bewirkt die Troposphäre Änderungen in der Stratosphäre. Ein gutes Beispiel dafür bieten die Wintermonate auf der Nordhalbkugel. Wenn es im Spätherbst im Norden dunkel und kalt wird, entwickelt sich jedes Jahr ein riesiger Luftwirbel über dem Nordpol: der stratosphärische polare Vortex. Dieser kalte Wirbel bewegt sich zwar stark, bleibt aber meistens den ganzen Winter hindurch stabil. Doch im Durchschnitt kommt es jedes zweite Jahr zu starken Störungen: Dann wird der Wirbel deformiert und er schwächt sich ab. Manchmal spaltet er sich sogar in zwei oder mehr Teilwirbel. Dabei klettert die Temperatur in der Stratosphäre über dem Pol binnen weniger Tage um bis zu 50 Grad Celsius. Wissenschaftler sprechen in einem solchen Fall von einer „plötzlichen Stratosphärenerwärmung“. Zuerst wurde das Phänomen 1952 beschrieben, und zwar von dem Meteorologen Richard Scherhag, der damals an der Freien Universität Berlin Messungen mit Wetterballonen analysierte.
Ausgelöst werden die plötzlichen Erwärmungen der Stratosphäre vermutlich durch so genannte Rossbywellen in der Troposphäre. Rossbywellen sind großräumige horizontale Schwingungen von Wind und Luftdruck, die vor allem um die beiden Polargebiete herumwandern. Diese Wellen sind ganz essenziell, denn sie „machen das Wetter“ in den mittleren und hohen Breiten. Von Wetterkarten kennt man die Gebiete hohen und tiefen Luftdrucks. Deren Lage ist eng an die Kurven der Rossbywellen gekoppelt, welche oft länger sind als tausend Kilometer. Die Länge der Wellen bestimmt ihre Wanderungsgeschwindigkeit: Kurze Rossbywellen laufen rasch nach Osten, längere bewegen sich langsamer oder bleiben sogar stehen, und die längsten Wellen driften in Richtung Westen. Das alles spielt sich in der Horizontalen ab, Rossbywellen wirken sich aber auch nach oben hin aus. Auf noch unklare Weise können sie im Winter eine plötzliche Stratosphärenerwärmung hervorrufen, die oft nach einigen Tagen bis Wochen dazu führt, dass sich die Luftzirkulation an der Erdoberfläche umstellt.
Von der Umstellung ist auch das Wetter in Europa betroffen, vor allem der Luftdruckunterschied zwischen dem Islandtief und dem Azorenhoch. Er hat einen entscheidenden Einfluss auf die Witterung im Winter. Ist der Druck im Islandtief sehr tief und im Azorenhoch sehr hoch, dann wehen über Westeuropa kräftige Westwinde vom Atlantik, wo das Meerwasser die Luft temperiert. Das macht den Winter in Europa mild. Ist der Luftdruckunterschied aber schwach, weht der Wind in Europa aus verschiedenen Richtungen – oft auch aus Norden und Osten. Von dort kann dann kalte Luft aus der Arktis oder aus Sibirien leicht nach Mittel- und Westeuropa vordringen.
In diese wetterentscheidenden Luftdruck- und Windverhältnisse greift die Stratosphäre folgendermaßen ein: Je kräftiger der stratosphärische Wirbel ist, desto stärker werden die Westwinde. Schwächt sich der Wirbel aber plötzlich ab (wobei sich die Stratosphäre erwärmt), kann sich der Gürtel der Westwinde stärker in Nord-Süd-Richtung „kringeln“. Dann kann es in Europa und in Nordamerika vermehrt zu Kälteperioden kommen.
Das winterliche Stratosphärenphänomen bietet die Chance, die Wetterprognosen zu verbessern. Das haben Wetterdienste längst erkannt und darum die Computermodelle zur Vorhersage angepasst. Früher endeten die Modelle für die Simulationen knapp oberhalb der Troposphäre. Heute ragen die mathematischen Zellengitter weit über die Troposphäre hinaus. Solche Modelle sagen winterliche Kälteperioden in Europa viel verlässlicher vorher.
Meteorologen vermuten, dass sich die Stratosphäre auch noch anderweitig in das Wetter einmischt, etwa bei den tropischen Wirbelstürmen im Pazifik. Es gibt außerdem Studien, die auf eine Wechselwirkung der Stratosphäre mit El Niño hinweisen – jener starken Erwärmung des tropischen Ostpazifiks, die alle zwei bis sieben Jahre das Wetter rund um den Globus durcheinander bringt. Doch in diesem wie auch in anderen Fällen tappen die Forscher noch im Dunkeln. Um den Einfluss der Stratosphäre auf die Troposphäre sicher nachzuweisen, braucht man lange präzise Messreihen und hochpräzise Computermodelle. Bis die Wirkung der Stratosphäre auf unser Wetter in allen Details verstanden ist und für die Vorhersage genutzt werden kann, dürfte noch einige Zeit ins Land gehen.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/erde/atmosphaere/wetter/stratosphaere/