„Die Grenze verschwimmt immer mehr“
Gabriele Schönherr
Mit dem diesjährigen Nobelpreis für Physik wurden zur Hälfte der deutsche Klimaforscher Klaus Hasselmann und sein japanischer Kollege Syukuro Manabe „für das physikalische Modellieren des Klimas der Erde, die quantitative Analyse von Variationen und die zuverlässige Vorhersage der Erderwärmung“ geehrt. Ihre Forschung legte den Grundstein für heutige Klimamodelle, mit denen unter anderem auch Christopher Irrgang vom Helmholtz-Zentrum Potsdam – Deutsches Geoforschungszentrum arbeitet. Im Interview mit Welt der Physik wirft der Wissenschaftler einen Blick auf die Zukunft der Klimamodellierung und spricht über Chancen und Grenzen künstlicher Intelligenz.
Welt der Physik: Wie lässt sich das Klima der Erde untersuchen und vorhersagen?
Christopher Irrgang: Die beiden klassischen Pfeiler, mit denen wir das Erdklima untersuchen, sind Beobachtungen beziehungsweise Modellierungen des Erdsystems. Wir können physikalische Prozesse entweder direkt messen, also beispielsweise Wassertemperaturen im Ozean mithilfe von Bojen lokal aufzeichnen, oder schmelzende Eisschilde mit Satelliten global überwachen. Oder wir verwenden Erdsystemmodelle, um die Prozesse – die wir auf der Erde beobachten – zu simulieren und daraus schlussendlich auch Vorhersagen für die Zukunft abzuleiten. Hierfür nutzen wir physikalische Gesetzmäßigkeiten, die wir in Computermodelle einbinden.
Wie genau sind solche Klimamodelle mittlerweile?
Vor wenigen Wochen wurde der sechste Sachstandsbericht des Weltklimarats, der sogenannte IPCC-Bericht, veröffentlicht. Er zeigt erneut, dass wir sehr viele Prozesse des Klimasystems verstanden haben. Mittlere Klimazustände können wir mit Modellen sehr gut nach- und abbilden. Mithilfe von Daten der letzten Jahre ließen sich auch die bisherigen Vorhersagen zur Klimaerwärmung validieren und zeigen, dass die Prognosen der vergangenen IPCC-Berichte zutreffen. Bis in die siebziger und achtziger Jahre hinein konnten Modelle nur einzelne Komponenten des Erdsystems abbilden, wie beispielsweise die Ozeane. Im Laufe der Jahrzehnte wurden die Modelle dann immer besser, größer und komplexer.
Besser, größer und komplexer: was bedeutet das?
Um das gesamte Erdsystem möglichst akkurat abzubilden, müssen wir die unterschiedlichen Subsysteme der Erde – also verschiedene Komponenten von Modellen – miteinander verbinden. Dazu gehören etwa Modellierungen der Ozeane, der Atmosphäre, der Kryosphäre, der Vegetation oder der Landmassen – und wir wollen diese Modelle immer mehr miteinander verbinden, um ein umfassendes Klima- und Erdsystemmodell zu erhalten. Man versucht außerdem, die geophysikalischen Prozesse sowohl mit der Biologie und Chemie als auch mit menschlichen Faktoren und Einflüssen zu verknüpfen.
Wie exakt kann ein solches, allumfassendes Modell sein?
Jedes Modell ist mit Unsicherheiten behaftet. Zum einen kennen wir nicht alle physikalischen Zusammenhänge und müssen immer gewisse Annahmen treffen. Es ist daher wichtig, viele, voneinander unabhängig entwickelte Modelle zur selben Fragestellung zu haben. Die Unterschiede der verschiedenen Modelle sind dann ein Maß der verbleibenden Unsicherheit. Zum anderen existiert auch aus mathematischer Sicht kein perfektes Modell. Deswegen möchten wir physikalische Modelle mit Methoden des Maschinellen Lernens verbinden – wir nennen das neuronale Erdsystemmodellierung. Klassische Erdsystemmodelle und Künstliche Intelligenz könnten dann voneinander lernen und sich immer weiter selbst verbessern.
Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz denn bisher in der Klimaforschung?
In den letzten fünf Jahren gab es einen richtiggehenden Boom. Anfangs ging es vor allem um automatisierte Bilderkennung. Man kann beispielsweise ein neuronales Netzwerk für autonomes Fahren, das unter anderem Straßenschilder erkennt, auch einsetzen, um Hurricanes oder Vegetationsmuster in Satellitenbildern zu erkennen. Bei diesen Beispielen handelt es sich aber um rein datengetriebene neuronale Netzwerke, die gelernt haben, bestimmte Muster in den Daten zu erkennen. Die Netzwerke sind damit nur für eine bestimmte Aufgabe vorgesehen und in keiner Weise mit menschlicher Intelligenz vergleichbar. Wir stehen also noch ganz am Anfang der Nutzung von Künstlicher Intelligenz, kurz KI, in der Erd- und Klimaforschung.
Und wie trainiert man ein neuronales Netzwerk?
Damit ein neuronales Netzwerk eine bestimmte Aufgabe lösen kann, werden zunächst Trainingsdaten benötigt, die einen entsprechenden Zusammenhang beschreiben oder Muster enthalten. Das Netzwerk beginnt die Aufgabe zu lösen und verbessert sich Schritt für Schritt durch den Abgleich mit den Trainingsdaten. Man kann sich ein neuronales Netz als eine Struktur aus einzelnen Knoten – sogenannten Neuronen – vorstellen, die mit neuronalen Gewichten, Zahlen zwischen Null und Eins, verbunden sind. Während des Trainings werden die Gewichte der Verbindungselemente zwischen den Neuronen immer weiter angepasst, bis sie möglichst optimal für das Lösen der Aufgabe geeignet sind.
Was haben Sie nun untersucht?
Eine Kernfrage unserer Forschung ist, ob wir neuronalen Netzwerken auch Physik beibringen können und sie dort einsetzen können, wo klassische Erdsystemmodelle ihre größten Schwächen haben. Das heißt, wir geben einem Netzwerk entweder bestimmte Gesetzmäßigkeiten – wie zum Beispiel physikalische Gleichungen – als Regeln vor, oder wir befähigen es durch gezielte Trainingsdaten, solche Gesetzmäßigkeiten selbst herzuleiten. Dazu werden Netzwerke nicht nur mit Beobachtungsdaten, sondern mittlerweile auch mit Daten aus Klimamodellen trainiert. Wir haben beispielsweise eine Studie zur Verteilung der Wassermassen auf dem südamerikanischen Kontinent mithilfe eines neuronalen Netzwerks durchgeführt. Dafür nutzten wir Satellitensignale, die räumlich sehr grob aufgelöst sind und deswegen keine genauen Rückschlüsse auf die Wasserverteilungen in den komplexen Flussstrukturen des Amazonas erlaubten. Wir haben das Netzwerk so trainiert, dass es diese Satellitendaten mit Ergebnissen von Modellrechnungen zur Verteilung der Wassermassen vergleicht. Zusätzlich sollte es sehr präzise Referenzdaten berücksichtigen, um sich selbst zu korrigieren. Damit haben wir eine genauere Repräsentation der tatsächlichen Wasserverteilung erhalten, als es jeweils aus den Satellitenbeobachtungen oder dem physikalischen Modell möglich war.
Welche Rolle könnte KI langfristig für die Klimaforschung spielen?
Wir würden Künstliche Intelligenz gerne für die Bereiche nutzen, in denen Erdsystemmodelle an ihre Grenzen gelangen. Dann könnten wir sagen: Diese Aufgabe überlassen wir einem KI-System, das wir zuvor etwa mit hochaufgelösten Beobachtungsdaten trainiert haben. Extremereignisse wie Starkregen und Dürren oder Langzeitphänomene wie das El-Niño-System und der Meeresspiegelanstieg lassen sich beispielsweise nur begrenzt mit heutigen Modellen vorhersagen. Solche Ereignisse und Phänomene hoffen wir zukünftig mit KI besser vorhersagen zu können.
Werden KI-Methoden physikalische Modelle eines Tages ersetzen?
Nein, das glaube ich nicht. Während ein Erdsystemmodell grundsätzlich auf bekannten physikalischen Gesetzmäßigkeiten basiert, benötigt ein neuronales Netzwerk erst einmal keinerlei Informationen über die Physik. Aus diesem Grund spielen auch die Erklärbarkeit und Interpretierbarkeit von neuronalen Netzen eine immer wichtigere Rolle. Besonders für klima- und gesellschaftsrelevante Fragen muss geprüft werden, wie und warum ein neuronales Netzwerk funktioniert. Deswegen sind hybride Modelle vielversprechend, da das KI-System und die physikalischen Modelle direkt miteinander verbunden sind und aktiv Informationen austauschen. Unsere Vision ist, dass die bisher strikte Grenze zwischen Erdsystemmodellen und KI mehr und mehr verschwimmt und dadurch ein neues Forschungsgebiet entsteht, in dem KI, Beobachtungssysteme und Modellierung tief ineinandergreifen.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/erde/die-grenze-verschwimmt-immer-mehr/