„Ein Hunderttausendstel des Lichts eines sonnigen Tages genügt“
Gabriele Schönherr
Welt der Physik: Sie waren als Teil der MOSAiC-Expedition an Bord der Polarstern, einem Forschungsschiff, das ein Jahr lang eingefroren im Eis durch das Nordpolarmeer driftete. Was war das für eine Erfahrung?
Clara Hoppe: Es ist nur schwer zu beschreiben: sowohl die landschaftlichen Eindrücke als auch die einzigartigen Forschungsmöglichkeiten. Während der MOSAiC-Expedition waren wir mit etwa 50 Personen aus verschiedenen Disziplinen gleichzeitig an Bord der Polarstern. Wir hatten ein sehr ambitioniertes Messprogramm, das unter den besonderen Bedingungen der Polarnacht und des arktischen Frühlings stattfand. Ich habe während der MOSAiC-Expedition das Ökosystem-Team geleitet, also auch viel Koordinationsarbeit geleistet. Eine Schicht Eisbärenwache war dann zum Beispiel eine willkommene Pause. Dafür musste man eine Stunde draußen auf dem Eis verbringen, im Wind stehen und Ausschau nach Eisbären halten – und das bei dem tollen Licht zu Beginn des Jahres, wenn die Sonne den ganzen Tag ganz tief steht.
Sie haben mit Ihrem Team Mikroalgen untersucht. Warum in der Arktis?
Mikroalgen sind von großer Bedeutung für das Ökosystem der Ozeane – insbesondere in der Arktis. Es sind winzige Organismen, die ähnlich wie die Pflanzen an Land Photosynthese betreiben und auch unter extremen Bedingungen existieren können. In der Arktis finden wir sie sowohl im Wasser als auch im Eis. Mit meiner Forschung möchte ich zum einen die Frühjahrsblüte der Algen besser verstehen, also ihr plötzliches massenhaftes Auftreten zu dieser Jahreszeit. Das ist ein ähnlicher Effekt, wie wenn im April oder Mai alle Bäume an Land gleichzeitig grün werden. Für das Ökosystem ist das ein sehr wichtiges Ereignis. Zum anderen möchte ich herausfinden, wie es die Algen überhaupt schaffen, so extreme Bedingungen wie die Polarnacht zu überstehen, wann sie wieder „aufwachen“ und was das für die Frühjahrsblüte bedeutet.
Was haben Sie herausgefunden?
Wir haben gesehen, dass die Algen schon bei sehr wenig Licht wachsen können, dass also Photosynthese in der Natur bei viel weniger Licht möglich ist, als wir das bisher beobachtet haben. Konkret haben wir gezeigt, dass die photosynthetische Biomasse bereits im März exponentiell ansteigt. Zu diesem Zeitpunkt steht die Sonne in der hohen Arktis nur knapp über dem Horizont, sodass es im Lebensraum der Mikroalgen unter der dicken Schnee- und Eisschicht des Arktischen Ozeans noch fast völlig dunkel ist. Es gibt eine theoretische Studie, in der berechnet wurde, wie viel Energie die reine Biochemie für den Prozess der Photosynthese benötigt. Wir kommen diesem Wert sehr nahe: Den Algen genügt ein Hunderttausendstel der Lichtmenge eines sonnigen Tages.
Was bedeutet dieses Ergebnis für marine Ökosysteme?
Es verändert unser Verständnis der Grenzbereiche, unter anderem der polaren Ökosysteme, die eine große Rolle bei der Klimaregulation spielen. Wir wissen jetzt, dass es Jahreszeiten gibt, die ökologisch sehr wichtig sind, die wir aber noch gar nicht richtig verstanden haben. Bisher sind wir ja davon ausgegangen, dass Biomasse in einer sehr kurzen Phase im Sommer produziert wird. Unsere Daten zeigen aber, dass dieser Zeitraum deutlich länger ist. Auch die euphotische Zone, also die Tiefe des Ozeans, bis zu der Photosynthese stattfinden kann, ist viel größer als wir bisher dachten. Dadurch nimmt die Gesamtproduktivität der Ozeane zu. Dies hat Auswirkungen auf unser Verständnis der Sauerstoffverteilung im Ozean, auf Sauerstoffminimum-Zonen und auf die Kapazität der Ozeane, Kohlenstoffdioxid aufzunehmen. Diese Erkenntnisse könnten auch heutige Klimamodelle verändern.
Welche Messungen haben Sie während der Expedition durchgeführt?
Die MOSAiC-Expedition hatte insgesamt einen starken Fokus auf Atmosphärenmessungen, dafür wurden etwa Wetterballone gestartet. Wir haben unglaublich viele Proben auf der Eisscholle genommen, Eiskerne gebohrt, getaut und verschieden prozessiert und hunderte Liter Wasser aus verschiedenen Tiefen des Ozeans an Deck geholt und analysiert. Außerdem haben wir eng mit Kolleginnen und Kollegen zusammengearbeitet, die sich mit dem Lichtfeld im Meereis beschäftigen. Wir haben neuartige Lichtsensoren getestet, die wir in der Dunkelheit ins Eis eingefroren haben. Die Sensoren haben dann kontinuierlich das Licht im Eis und unter dem Eis gemessen. Bisher mussten wir für Messungen unter dem Eis ein Loch bohren. Aber dadurch oder auch nur durch das Laufen auf dem Schnee verändern wir das Lichtfeld. Deshalb waren die Sensoren für uns ein sehr spannendes und wichtiges Puzzleteil.
Lief alles nach Plan?
Es kam vor, dass sich das Eis im Laufe der Zeit zusammengeschoben hat und wir an den einen oder anderen Sensor nicht mehr herangekommen sind. Die meisten Sensoren konnten wir aber bergen und die Daten auslesen, als wir im Juli die Scholle verlassen haben. Auch die Zusammenarbeit an Bord mit den Kolleginnen und Kollegen aus der Atmosphärenforschung, der Ozeanographie und der Meereisphysik hat sehr gut funktioniert. Wir konnten uns gegenseitig unterstützen, zum Beispiel bei der Eisbärenwache oder als die Eisscholle aufgebrochen ist und ganz schnell ganz viele Kabel gerettet werden mussten. In solchen Momenten gehen alle mit und helfen.
Die MOSAiC-Expedition liegt nun mehr als vier Jahre zurück. Was ist seitdem passiert und wie geht es weiter?
Am Ende der Expedition haben wir zehn riesige Kühltruhen mit Proben zurückgeschickt. Allerdings waren zu dieser Zeit viele Labore wegen der COVID-19-Pandemie geschlossen, sodass wir erst spät mit den Analysen beginnen konnten. Inzwischen sind alle Proben analysiert und die meisten Rohdaten ausgewertet und veröffentlicht. Wir befinden uns jetzt mitten in der spannendsten Phase. Ich versuche zum Beispiel gerade den gesamten Jahresgang der Mikroalgen zu verstehen: Was machen die Algen in der Dunkelheit? Wie schaffen sie es zu überleben? Wie ist die Dynamik im Meereis? Besonders überrascht hat mich zum Beispiel, wie viele Algen es in der Polarnacht gibt und wie früh die Algen im Wasser aktiv werden. Bisher ging man in der Polarforschung davon aus, dass zuerst die Algen im Eis blühen und erst danach die im Wasser.
Sie befinden sich gerade auf Spitzbergen in der norwegischen Arktis. Was machen Sie dort?
Wir führen eine ganzjährige Studie durch, bei der wir diesmal an Land wohnen und nur mit Booten hinausfahren, um Proben zu nehmen. Gerade bin ich hier, um dem Team vor Ort den Weg in die Polarnacht etwas zu erleichtern – denn natürlich wird alles etwas komplizierter, wenn es monatelang dunkel ist. Wir beobachten das Ökosystem im Jahresverlauf mit wöchentlichen Probennahmen und führen zusätzlich Laborexperimente durch. Da geht es um Phytoplankton, Makroalgen, Fische und Seeigel. Man könnte also sagen, es ist so eine Art „Mini-MOSAiC“-Expedition – aber mit einem viel stärkeren biologischen Fokus.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/erde/ein-hunderttausendstel-des-lichts-eines-sonnigen-tages-genuegt/