Das Summen der Erde: Eigenschwingungen

Rudolf Widmer-Schnidrig, Walter Zürn

Eigenfrequenzen Erde

Erdbeben und andere Phänomene sorgen dafür, dass die Erde immer wieder eigenartige Bewegungen ausführt. Der Planet schwingt wie eine Stahlkugel, er eiert wie ein Kreisel. Diese Eigenschwingungen helfen das Erdinnere zu verstehen.

Wird eine frei aufgehängte Stahlkugel kurz mit einem Hammer angeschlagen, so klingt sie für einige Zeit nach: Die Kugel wird durch den Schlag zu freien elastischen Eigenschwingungen angeregt. Deren Verschiebungen führen an der Oberfläche zur Abstrahlung akustischer Wellen. Die zugehörigen Eigenfrequenzen sind charakteristisch für die Kugel und hängen von ihrer Größe, Dichte und Elastizität ab. Ersetzt man nun die Kugel durch die Erde, den Hammer durch ein starkes Erdbeben und unsere Ohren durch empfindliche Seismometer, dann hat man das geophysikalische Gegenstück des Laborversuchs vor sich. Die Natur führt diesen Versuch häufig durch – leider oft mit katastrophalen Folgen. Eine Aufgabe der Seismologie ist es, die elastischen Eigenschwingungen der Erde zu detektieren und daraus die typischen Eigenschaften der Erde zu ermitteln. Die Frequenzen liegen zwischen 0,3 und etwa 20 mHz (Millihertz). Das obere Limit ist nur durch Grenzen des Auswerteverfahrens gegeben.

Es gibt außer den elastischen auch noch andere Eigenschwingungen. Ein Beispiel: Wird ein Spielkreisel in schnelle Rotation versetzt und seine Figurenachse kurz angestoßen, dann führt der Kreisel kreisförmige Oszillationen um seine Achse aus – die Kreisel-Eigenschwingungen. Man nennt sie auch freie Nutationen. Deren Eigenschaften werden durch Trägheitsmomente, Deformierbarkeit usw. bestimmt. Auch diesen Versuch führt die Natur mit der Erde als Kreisel dauernd durch. Angeregt werden die Schwingungen durch Drehmomente der Atmosphäre und Ozeane und durch die Gezeitenkräfte von Mond und Sonne.

Infografik. X-Y-Grafik. Aufgetragen ist die Deformationsschwankung in der Erdkruste gegen die Frequenz der Eigenschwingungen. Eng gedrängte Spitzen in einem Bereich von 0,2 bis 0,9 Millihertz. Die höchsten Peaks sind bei ca. 0,47, 0,65 und 0,81 Millihertz zu sehen.

Eigenschwingungen nach einem Erdbeben

Mit zwei einfachen Methoden lassen sich die mechanischen Resonanzen eines Systems wie der Erde bestimmen. Zum einen kann man das System einer Feder gleich aus der Ruhelage auslenken und loslassen; es kehrt dann mit freien, gedämpften Eigenschwingungen zurück. Zum anderen kann man das System harmonisch mit variabler Frequenz anregen und die Eigenschwingungen auf Grund der resonanten Wirkung finden. Dabei muss die Art der Anregung zur Eigenschwingung passen. Verfügt man über eine Theorie für diese Schwingungen, dann lassen sich aus den Beobachtungen Eigenschaften des Systems ermitteln, aus denen sich die Eigenschwingungen erklären lassen.

Zu berücksichtigen ist freilich: Neben den freien Schwingungen führt die feste Erde eine ganze Reihe von erzwungenen (quasi-)periodischen Schwingungen aus, z. B. die allgemeine Präzession der Erdachse mit einer Periode von 25.765 Jahren, die jährliche Polschwankung und die Gezeiten der festen Erde.

Elastische Eigenschwingungen

Eigenschwingungen der Erde mit verschiedenen langperiodischen Seismographen zu beobachten, gelang zum ersten Mal nach dem extrem starken Erdbeben am 22. Mai 1960 in Chile. Am 28. März 1964 regte ein weiteres starkes Beben in Alaska die Schwingungen erneut messbar an. Diese beiden Ereignisse markieren den Beginn einer neuen Forschungsrichtung der Seismologie: Die terrestrische Spektroskopie war geboren. Die beobachteten Frequenzen vieler Eigenschwingungstypen lagen gleich sehr dicht bei denen, die mit Erdmodellen berechnet worden waren. Diese hatte man ihrerseits aus den Laufzeiten seismischer Wellen ermittelt.

Um Eigenschwingungen zu bestimmen, muss man zunächst die Symptome messen. Dazu dienen Seismometer und Gravimeter. Diese Instrumente bestehen aus trägen Massen, die an Federn aufgehängt sind. Die Verschiebungen der trägen Massen gegenüber den Gehäusen werden mit Weg- oder Geschwindigkeitsaufnehmern erfasst und dann elektronisch weiterverarbeitet. Die Geräte reagieren auf Beschleunigungen und Änderungen des Schwerefelds, die mit seismischen Signalen einher gehen. Anders funktionieren die sogenannten Strainseismometer (auch: Extensometer). Sie messen die durch elastische Deformation des Gesteins hervorgerufenen Abstandsänderungen zweier Punkte, die zwischen 1 cm und 1 km voneinander entfernt sein können.

Erdbebenseismogramme setzen sich aus verschiedenen impulsartigen Signalen zusammen, die von den elastischen Kompressions- und Scherwellen stammen. Diese Wellen gelangen durch das Erdinnere als sogenannte Raumwellen zur Station. Darauf folgen Wellen, die sich an der Oberfläche ausbreiten. Anschließend macht sich die sogenannte Coda bemerkbar, die aus mehrfach reflektierten und gestreuten, sowie mehrfach um die Erde gelaufenen Wellen besteht. Ähnlich wie eine stehende Welle auf einer Saite durch die Überlagerung einer nach links laufenden mit einer nach rechts laufenden Welle entsteht, führt die konstruktive Interferenz dieser Wellen zu den Eigenschwingungen der Erde. Die verschiedenen Eigenschwingungstypen entstehen dabei aus verschiedenen Typen von laufenden Wellen.

Infografik. Drei Darstellungen der Erdkugel mit wellenförmigen Mustern aus Farben und Pfeilen.

Muster von Eigenschwingungen nach Beben

Damit sich Seismogramme von Eigenschwingungen auswerten lassen, müssen sie einen Zeitraum von mindestens 20 Stunden umfassen. Es gibt mehrere Rückstellkräfte bei diesen Schwingungen. Zum einen sind das die elastischen Spannungen, die durch Deformation aus dem Gleichgewichtszustand entstehen, zum anderen die Gravitationswirkung der verschobenen Massen (Selbstgravitation). Die Gravitationswirkung spielt aber nur bei den Eigenschwingungstypen mit den tiefsten Frequenzen eine größere Rolle. Die Form der Verschiebungsfelder und die Frequenzen dieser „seismischen“ Wellentypen folgen aus ihrer Geometrie sowie aus der Verteilung der Dichte r und der elastischen Parameter in der Erde. Daher lassen sich diese Eigenschaften und ihre Verteilung auf der Erde aus den beobachteten Verschiebungsfeldern und Frequenzen bestimmen.

Der Eigenschwingungstyp mit der tiefsten Frequenz wird im Englischen als „football mode“ bezeichnet. Er hat eine Periode von 54 Minuten und wird nur von den allerstärksten Erdbeben nachweisbar angeregt. Die Erde schwingt dabei – stark übertrieben – zwischen den Formen eines American Football (eiförmig) und eines Kürbis hin und her. Der einer atmenden Kugel (englisch breathing mode) entsprechende Schwingungstyp hat eine Periode von 20 Minuten, die annähernd gleich der Laufzeit einer Kompressionswelle von der Erdoberfläche zum Erdmittelpunkt und zurück ist. Da sie noch bis zu einen Monat nach sehr starken Beben beobachtet werden konnte, kennt man ihre Frequenz sehr genau. Eine homogene Stahlkugel mit demselben Radius wie die Erde hätte für diesen Wellentyp eine Periode von 30 Minuten.

Bisher wurden nur Erdbeben als Anregungsmechanismus für Eigenschwingungen der Erde erwähnt. Erdbeben sind als Scherbrüche im Vergleich zu den Abklingzeiten der Wellen von sehr kurzer Dauer. Dadurch können die Wellen frei schwingen, bis sie im Rauschen verschwinden.

Aber auch Vulkane regen Eigenschwingungen an. 1991 wurde beobachtet, dass der Ausbruch des Mount Pinatubo auf den Philippinen circa acht Stunden lang harmonische Wellen mit zwei Frequenzen erzeugte. Sie liefen mehrfach um die Erde und konnten konstruktiv miteinander interferieren. Der Vulkan lieferte dabei die Energie für zwei vertikale Eigenschwingungen der Atmosphäre. Durch ihre Druckschwankungen an der Erdoberfläche erzeugten sie die in der Ferne beobachteten, seismischen Wellen.

Dann wurde 1998 erstmals nachgewiesen, dass die Eigenschwingungen der Erde auch in Zeiten ohne Beben nachweisbar angeregt sind. Diese sogenannten Hintergrundeigenschwingungen befinden sich im Band 2-7 mHz und besitzen eine Beschleunigungsamplitude von 10-12 m/s2. Der Anregungsmechanismus wird immer noch kontrovers diskutiert. Als aussichtsreichste Kandidaten gelten dabei Prozesse in den Ozeanen oder auch in der Atmosphäre. Ebenso wie bei den Signalen der Pinatubo-Eruption wird auch hier angenommen, dass ein zeitlich variabler Luft- oder Wasserdruck in der darunter liegenden festen Erde zur Anregung seimischer Wellen führen kann.

Kreiseleigenschwingungen

Betrachtet man die Erde als abgeplatteten Kreisel, so vollzieht sie Präzessionsbewegungen aufgrund der äußeren Kräfte und Drehmomente durch Mond und Sonne. Zusätzlich kann die Erde überlagerte freie Bewegungen ausführen, die denen eines kräftefreien Kreisels entsprechen. Ein abgeplatteter Kreisel kann stabil um seine Figurenachse rotieren. Weicht die Rotationsachse von der Figurenachse ab, so kommte es gleichzeitig zu einer sogenannten freien Nutation. Diese Taumelbewegung des Kreisels (englisch wobble) wird zu den Eigenschwingungen dazu gezählt.

Infografik. Zwei ineinander gesteckte Kegel. Drei Pfeile markieren Figurenachse, Rotationsachse und Drehimpulsachse.

Das Taumeln der Erde

Der amerikanische Astronom Seth Carlo Chandler entdeckte schon 1891 bei astronomischen Beobachtungen eine Breitenschwankung der Erde mit einer Periode von 435 Sterntagen. Die Rotationsachse bewegt sich dabei an den Polen der Erde zyklisch innerhalb eines Kreises mit 10 m Radius. Diese Bewegung setzt sich zusammen aus dem sogenannten Chandler-Wobble und der etwas stärkeren, von der Atmosphäre erzwungenen Jahresperiode. Die Chandlersche Bewegung wurde schnell mit der bereits von Euler vorhergesagten Bewegung mit der Periode 305 Sterntage in Verbindung gebracht. Der Unterschied zwischen den Periodendauern (435 und 305 Sterntage) bedurfte allerdings einer fachwissenschaftlichen Erklärung.

Der Chandler-Wobble wird dauernd angeregt. Als Energiequellen werden vor allem die Atmosphäre und Ozeane, gelegentlich aber auch Erdbeben (Veränderungen der Trägheitsmomente) diskutiert. Die Atmosphäre scheint nur etwa ein Drittel der nötigen Energie liefern zu können, die anderen zwei Drittel kommen von den Oeanen. Erdbeben konnten bisher nicht sicher als Quellen identifiziert werden.

Zusammenfassung

Was wir heute über die langwellige Struktur des tiefen Erdinneren wissen, beruht zu einem wesentlichen Teil auf den Beobachtungen von Eigenschwingungen der Erde. Weitere und verbesserte Beobachtungen, zusammen mit theoretisch-numerischen Weiterentwicklungen, werden helfen, dieses Bild zu verfeinern. Eine Herausforderung stellt derzeit zum Beispiel die dreidimensionale Verteilung der Dichte im Erdmantel dar. Ihr lässt sich nur mittels Eigenschwingungen auf den Leib rücken. Die jüngsten Entdeckungen der ständig angeregten elastischen und der tieffrequenten Schwingungstypen, die ersten Ansätze zu einer zeitabhängigen Seismologie, sowie die wachsende Auflösung bei der Beobachtung der freien Nutationen zeigen, dass dieses Forschungsgebiet immer wieder Überraschungen bereit hält. Sie werden unseren Blick in Richtung Erdmittelpunkt weiter verbessern.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/erde/erdinneres/eigenschwingungen-der-erde/