Erdbebenfrühwarnung
Ulrich Pontes
Zwar lassen sich Erdbeben generell nicht vorhersagen, doch sehr kurzfristig sind Warnungen vor bevorstehenden Erdstößen durchaus möglich. Der Geophysiker Friedemann Wenzel vom Karlsruher Institut für Technologie erklärt, wie solche Frühwarnsysteme für Erdbeben funktionieren und wo sie sich einsetzen ließen.
Schon lange bauen Seismologen Messstationen, um Erschütterungen der Erde zu registrieren und zu vermessen. Kernstück sind Beschleunigungssensoren für Bodenbewegungen, sogenannte Accelerometer. Neben der Möglichkeit, Erdbeben nachträglich zu analysieren und damit Aufschluss über Entstehungsort und -grund zu erhalten, haben Wissenschaftler vor gut zehn Jahren damit begonnen, ihre Messstationen für eine weitere Anwendung zu nutzen: Erdbebenfrühwarnsysteme.
Friedemann Wenzel: „Es ist keine Prognose – stattdessen nutzt man Eigenschaften der Wellen, die sich beim Erdbeben ausbreiten. Man erhält dabei ein kleines, schnelles Signal, das keinen großen Schaden generiert. Die schadensträchtigen Wellen kommen dann hinterher. Die Zeitspanne dazwischen lässt sich ausnutzen, um bestimmte Maßnahmen einzuleiten.”
Auch wenn die Zeitspanne zur Vorwarnung sehr klein ist – zwischen Sekunden und etwas mehr als einer Minute – reicht dies für viele Schutzmaßnahmen: Schnellzüge und Fahrstühle können gestoppt werden, Schüler und Lehrer in Schulen können unter Tische abtauchen, um vor fallenden Teilen geschützt zu sein. Und Industriebetriebe können Schäden an empfindlichen teuren Maschinen minimieren.
„Zum Beispiel die Automobilindustrie, in der viel mit Robotern gearbeitet wird. Dort besteht der Schaden an der Fabrik normalerweise nicht darin, dass eine Decke runterfällt, sondern darin, dass Roboterarme beschädigt werden. Wenn man ein paar Sekunden Zeit hat, dann lassen sich diese in eine sichere Position fahren. Eine andere Anwendung betrifft petrochemische Einrichtungen, bei denen die Feuergefahr reduziert werden kann. Es gibt also einen gewissen Bereich, wo Frühwarnung nützt – aber natürlich können Sie keine Stadt evakuieren oder Leute aus dem elften Stockwerk.”
Um zu verstehen, warum einem Erdbeben sozusagen ein Warnsignal vorausgeht, muss man sich vor Augen führen, wie es überhaupt zustande kommt. Alles beginnt damit, dass die tektonischen Platten, in die die äußerste Schicht der Erde aufgeteilt ist, sich um einige Zentimeter pro Jahr bewegen. An den Plattengrenzen entstehen so über Jahre große Spannungen, die sich irgendwann plötzlich lösen – dann kommt es zu einem Scherbruch, einer sehr schnellen Verschiebebewegung an der Plattengrenze. Diese Erschütterung pflanzt sich dann im Gestein als Erdbebenwelle in alle Richtungen fort.
Generell gibt es zwei grundlegend verschiedene Typen von Wellen: Solche, bei denen etwas parallel zur Ausbreitungsrichtung der Welle hin- und herschwingt, zum Beispiel die Luft bei Schallwellen. Das sind die sogenannten Kompressions- oder Longitudinalwellen. Und es gibt Wellen, bei denen etwas quer zur Ausbreitungsrichtung schwingt, so wie bei La-Ola-Wellen im Stadion, die sich entlang der Tribüne fortpflanzen. Solche Wellen heißen Transversal- oder Scherwellen. Bei einem Erdbeben entstehen beide Sorten von Wellen. Dabei sind die Kompressionswellen deutlich schneller als die Scherwellen.
„Die schnelle Welle, die als Erste ankommt, ist im Wesentlichen einfach die Schallwelle, die es auch in Gasen und Flüssigkeiten gibt. Im Unterschied dazu lassen sich Festkörper allerdings auch scheren – und deshalb gibt es dann tatsächlich eine zweite Welle, die Scherwelle, und die ist langsam. Das ist aber diejenige – nachdem das Erdbeben schließlich ein Scherbruch ist –, in die die meiste Energie geht.”
Etwa 95 Prozent der Gesamtenergie eines Erdbebens gehen in die langsamere Scherwelle. Je nach Entfernung von der Quelle des Erdbebens ergibt sich somit nach Eintreffen der schnellen Kompressionswelle eine kleine Zeitspanne für die Frühwarnung – so weit ist die Idee recht simpel.
„Die Herausforderung ist natürlich, dass man anhand des schwachen Signals abschätzen muss, wie groß und wie stark das starke Signal sein wird, und das möglichst schnell. Um das ein bisschen plastischer zu machen: Die Dauer des schwachen Pulses, die direkt seinen Frequenzgehalt widerspiegelt, hängt davon ab, wie groß das Erdbeben ist; die Amplitude, also der Ausschlag des schwachen Pulses, gibt dann zusätzlich die Information, wie weit das Erdbeben vom Messort entfernt ist.”
Dieses Prinzip, Größe und Entfernung des Bebens abzuschätzen, funktioniert eigentlich ganz gut – außer dann, wenn es besonders darauf ankommt, nämlich bei extrem starken Erdbeben mit Magnitude acht oder neun.
„Bei solchen Beben kann die Bruchdauer – also der Zeitraum, in dem das Erdbeben sozusagen stattfindet – in der Größenordnung von Minuten liegen. Das heißt, man muss während des Ereignisses selbst schon die Folgen beschreiben und kann nicht warten, bis das Erdbeben vorbei ist – wie wir es bei den kleineren machen –, sondern man muss im Prozess des Erdbebens bereits die Prognostik machen. Das versucht man anhand des beobachteten Wellenfeldes mit Methoden, die natürlich auch modellgestützt sind. Das Ganze lässt sich mit zusätzlichen Beobachtungen, also wenn sich die Welle weiter ausgebreitet hat, wieder updaten. Wir nennen das Assimilation von Daten und Modellen. Wie gut das wirklich geht, weiß man im Moment nicht.”
Ein weiterer aktueller Forschungsgegenstand besteht darin, nicht nur die Daten seismischer Messstationen für die Frühwarnung zu nutzen. Schließlich verfügen auch viele große Bauwerke wie Brücken oder Hochhäuser heute über integrierte Sensoren, um permanent ihren Zustand zu überwachen. Diese Daten könnten in Zeiten immer schnellerer Kommunikations- und Rechenkapazitäten ebenfalls helfen, Frühwarnsysteme zu verbessern. Und manche Forscher denken sogar darüber nach, ganz gewöhnliche Smartphones einzusetzen, die heute in aller Regel Beschleunigungssensoren und GPS enthalten.
„Wenn Sie in der Nähe eines Erdbebens sind, dann kann der Accelerometer in Ihrem Smartphone die Beschleunigung messen. Tatsächlich lässt sich durch das GPS sogar die Bodenbewegung messen. Und nachdem diese Geräte weit verbreitet sind und in großer Masse zur Verfügung stehen, gibt es momentan Überlegungen, diese menschlichen Sensoren – also Leute, die beispielsweise ihr Smartphone auf dem Tisch liegen haben – einzusetzen – nicht statt, aber zusätzlich zu den instrumentierten Accelerometern, um schnelle Information zu bekommen.”
Trotz der Fortschritte in den vergangenen Jahren ist noch unklar, welchen konkreten Nutzen Erdbebenfrühwarnsysteme im Fall des Falles bringen.
„Abgesehen von Japan gibt es sehr wenig Erfahrungen mit der tatsächlichen Wirksamkeit dieser Systeme. Weil Erdbeben eben selten sind. Zum Beispiel hat Istanbul ein Frühwarnsystem, das 1999 gebaut wurde – in dem Jahr war das große Erdbeben –, aber seither nie gebraucht wurde, weil es kein größeres Erdbeben mehr gab. Gott sei Dank! Wie die Funktionalität tatsächlich wäre, wird man sehen. Der Lernprozess schleppt sich also etwas dahin, aber das ist auch ganz gut, denn das heißt schließlich gleichzeitig, dass es unterdessen keine Erdbeben gibt.”
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/erde/erdinneres/erdbebenfruehwarnung/