Induzierte Erdbeben

Torsten Dahm

Das Bild zeigt eine zerstörte Siedlung.

Die Erde bebt nicht nur aufgrund natürlicher Prozesse: Auch Bergbau oder Stauseen können die Spannung im Untergrund verändern und Erdstöße auslösen.

Am 23. Februar 2008 zitterte in Saarwellingen im Saarland die Erde. Von der Kirche St. Blasius stürzten Steine bis zu vierzig Meter in die Tiefe, in Wohngebäuden durchzogen Risse die Wände. Das Erdbeben mit einer Magnitude von 4,0 war ungewöhnlich: Es wurde durch Kohlebergbau in einem von tektonischen Störungen durchzogenen Gebiet hervorgerufen. Wegen heftiger Proteste vor Ort stellte man den Abbau im Flöz Primsmulde im April 2008 ein.

Nicht nur Bergbau kann Erdbeben induzieren. Auch viele andere menschliche Aktivitäten kommen als Ursache in Frage, darunter beispielsweise die Befüllung von Stauseen, Öl- oder Gasförderung, tiefe geothermische Anlagen, die Förderung von Wasser oder die Verpressung von Fluiden in den Untergrund. Zwar überwachen Forscher inzwischen einige Gebiete, die von geotechnischen Aktivitäten wie dem Bergbau betroffen sind, mit geeigneten Messinstrumenten, doch werden die Daten längst nicht immer offengelegt. Und so stehen die Geowissenschaftler auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch vor vielen offenen Fragen.

Geschichte der induzierten Erdbeben

Seit Jahrhunderten gewinnen Menschen durch Bergbau Bodenschätze. Nahe Dortmund baute man schon um das Jahr 1296 Kohle ab – zunächst unkontrolliert, seit 1849 dann durch Tiefstollenbergbau mit unterirdischen Sprengungen. Von Anfang an beeinflusste oder schädigte die Nutzung der Bodenschätze die Umwelt. Bereits um 1880 waren die sogenannten Bergsenken bekannt – großräumige Absenkungen des Bodens, die der Kohlebergbau verursachte. Auch dass der Bergbau gelegentlich Erdbeben hervorrief, blieb nicht unbemerkt. Ab dem Jahr 1907 wurde im Ruhrgebiet das weltweit erste Überwachungssystem für induzierte Erdbeben installiert.

Die bisher stärksten, durch Bergbau induzierten Erdbeben in Deutschland ereigneten sich aber nicht im Ruhrgebiet, sondern in den Kalibergbaugebieten der Werra in Mitteldeutschland.

Ausgelöste oder induzierte Erdbeben in Deutschland mit einer Magnitude größer als 4 zwischen 1900 und 2008. Die Magnitude ML stellt ein Maß für die physikalische Stärke eines Bebens dar. Wichtiger für die möglichen Schäden an der Erdoberfläche ist die sogenannte Epizentralintensität I0: Sie ist ein Maß für die stärksten Bodenerschütterungen.

Quelle: G. Grünthal und W. Minkley (2005)

Datum

Ort oder Gegend

ML

I0

Aktivität

24.05.1940

Krügerschall (Saale-Revier)

4,9

VII

Kalibergbau

22.02.1953

Heringen (Werra-Revier)

5,0

VII-VIII

Kalibergbau

08.07.1958

Merkers (Werra-Revier)

4,7

VII

Kalibergbau

23.06.1975

Sünna (Werra-Revier)

5,2

VIII

Kalibergbau

13.07.1981

Ibbenbühren

4,1

VI

Kohlebergbau

13.03.1989

Völkershausen (Werra-Revier)

5,6

VIII-IX

Kalibergbau

16.05.1991

Ibbenbühren

4,3

VI

Kohlebergbau

11.09.1996

Teutschenthal (Saale-Revier)

4,9

VII

Kalibergbau

06.01.200.

Ibbenbühren

4,2

VI

Kohlebergbau

20.10.2004

Rotenburg/Wümme

4,5

Gasförderung

23.02.2008

Primsmulde/Saarland

4,0–4,2

Kohlebergbau

Dass sich durch das Einbringen von Fluiden in den Untergrund Erdbeben auslösen lassen, wies erstmals der Seismologe John Helding Healy vom United States Geological Survey (USGS) in den USA nach. In der Region um Denver rief die Verpressung von Abwasser in den Jahren 1962 bis 1965 in einer Tiefe von dreieinhalb Kilometern viele Erdbeben hervor – nicht nur während der Injektion, sondern auch noch bis zu 15 Jahre danach. Das bis dahin stärkste Ereignis mit einer Magnitude von 4,8 ereignete sich zwei Jahre nach der Injektion.

Heute werden in den USA laut Bill Ellsworth vom USGS etwa 140 000 Bohrlöcher für Injektionen genutzt, entweder um Abwässer in der Tiefe zu verpressen oder die Effizienz in der Ölförderung zu steigern. Nur ein kleiner Prozentsatz davon löste Erdbeben mit einer Magnitude über 3 aus. Das bisher stärkste durch Injektion ausgelöste Ereignis trat 2011 in Oklahoma in einem entleerten Ölfeld auf. Laut Katie Keranen von der University of Oklahoma hatte es immerhin eine Magnitude von 5,7.

Induzierte und ausgelöste Erdbeben

Wenn Forscher induzierte Erdbeben begutachten, müssen sie differenzieren: Wie groß ist der Anteil des Menschen und der Natur an dem Erdbeben? Wurden die Ereignisse durch tektonische Spannungen beeinflusst, die sich über viele Jahrhunderte aufgebaut haben? Seismologen unterscheiden zwischen ausgelösten und induzierten Erdbeben. Ein induziertes Erdbeben tritt nie ohne die Aktivität des Menschen auf. Ein ausgelöstes Erdbeben wird zwar durch den Menschen beeinflusst, die Größe der Bruchfläche aber bestimmen hauptsächlich die tektonischen Spannungen. Das Beben würde auch ohne den Menschen auftreten, aber vielleicht erst später.

Infografik. Karte von Europa. Symbole verschiedener Farbe und Gestalt, vor allem in Mittel- und Südeuropa. Die Symbole stehen für die Ursachen der induzierten Erdbeben, also für verschiedene Formen des Bergbaus, für Stauseen, für geothermische Anlagen oder für Gas- oder Ölfelder.

Induzierte Erdbeben in Europa

Ein besonders markantes Beispiel eines Streitfalls stellt das Starkbeben im Jahr 2008 am Rande des Wenchuan-Sedimentbeckens in China dar. Es hatte eine Magnitude von 7,9. Das Erdbeben forderte mehr als 70 000 Menschenleben und verursachte wirtschaftliche Schäden von mehr als vierzig Milliarden US-Dollar. In der Nähe des Epizentrums wurde damals ein Stausee befüllt. Wissenschaftler sind sich nicht einig, ob der Stausee das Beben ausgelöst haben kann oder nicht. .

Induzierte Erdbeben in Europa

In den vergangenen hundert Jahren traten in Europa die unterschiedlichsten induzierten oder ausgelösten Erdbeben auf (siehe nebenstehende Karte). In Südeuropa ereigneten sich die stärksten ausgelösten Beben mit Magnituden bis über 5 nahe Stauseen. In Deutschland, den Niederlanden und Polen waren der Bergbau sowie die Gas- und Ölförderung die Hauptverursacher stärkerer induzierter Erdbeben. Zum Beispiel bebte die Erde mehrmals zwischen 1940 und 1989 in der Nähe von deutschen Kalibergbaugruben mit einer Magnitude von bis zu 5,6. Das rief auch größere Sachschäden hervor.

Der Kohlebergbau und die konventionelle Gasförderung haben Erdbeben bis knapp unterhalb der Magnitude 4,5 verursacht. Da sich induzierte Erdbeben in der Regel nahe der Oberfläche ereignen, können sie bei dieser Stärke bereits Schäden nach sich ziehen. Auch Injektionen von Fluiden, etwa um mit hohem Druck unkonventionelle Gasvorkommen zu erschließen (Fracking), haben manchmal Beben zur Folge. Anders als in den USA haben Injektionen und Frackingverfahren in Europa bisher nur wenige Erdstöße mit einer Magnitude über 3 ausgelöst. Beispiele sind die beiden Schweizer Beben in Basel mit einer Magnitude von 3,4 im Jahr 2006 und in Sankt Gallen mit einer Magnitude von 3,5 im Jahr 2013

Auslöser von Erdbeben

Die meisten Erdbeben sind abrupte, schnelle Scherbrüche. Sie entstehen also durch Versatz, nicht durch Dehnung der Erdkruste – und zwar entlang vorhandener Schwächezonen oder geologischer Verwerfungen. Überschreitet die Scherspannung eine Festigkeitsgrenze des Gesteins, kommt es zu einem Bruch. Als Bruchkriterium wird meistens das sogenannte Coulombsche Spannungskriterium verwendet: Demnach ist die Scherfestigkeit des Gesteins umso höher, je stärker die Auflast von oben drückt – es besteht ein linearer Zusammenhang.

Infografik. Querschnitt durch die Erdkruste. Links ein Stausee, der unterirdisch mit einer Schicht verbunden ist, die Grundwasser leitet. Rechts ein angebohrtes Gasreservoir. In beiden Fällen ist auch eine tektonische Störung vorhanden. Pfeile zeigen die bestehenden Spannungen in der Erdkruste an.

Mechanismen induzierter Erdbeben

Zwei geophysikalische Mechanismen erklären, wie ein Bruch ausgelöst werden kann. Zum einen kann die Scherspannung steigen und einen kritischen Wert übersteigen, zum anderen kann die Auflast – oder allgemeiner: die senkrecht wirksame, kompressive Normalspannung – sinken und einen kritischen Wert unterschreiten.

Füllt man einen Stausee, so wächst durch die Kompression des Gesteins die Scherspannung. Eine Massenumlagerung durch Bergbau kann den gleichen Effekt haben. Gleichfalls kann die Wegnahme von Auflast – zum Beispiel durch Entleerung eines Gas- oder Ölfelds oder Aushub von Erdmasse – das Gestein in die Nähe kritischer Werte der Scherspannung bringen. Dies sind Beispiele für den ersten Mechanismus.

Für den zweiten Mechanismus spielt der Porendruck im Gestein eine wichtige Rolle. Jedes Gestein hat eine charakteristische Porosität. Der innere Porendruck, der im Skelett des porösen Gesteins wirksam ist, gleicht die Normalspannung aus – also zum Beispiel die Spannung durch Auflast. Mit wachsendem Porendruck sinkt daher die wirksame Normalspannung, während die Scherspannung gleich bleibt. Nach dem Coulombschen Spannungskriterium steigt dann die Bruchgefahr. So kann zum Beispiel das Einpressen von Fluiden in den Untergrund Erdbebenbrüche auslösen.

Sind induzierte Erdbeben vorhersagbar?

Es ist zwar bekannt, unter welchen Bedingungen sich ein Bruch ereignet, der mit einem Erdbeben einhergeht. Allerdings können Erdbeben nicht auf Tag und Stärke genau vorhergesagt werden, ganz gleich welcher Ursache sie sind. Die Bruchkriterien sagen nur etwas über die Auslösung aus, nichts über die Stärke des Bebens. Damit sich ein ausgelöster Bruch zu einem spürbaren Erdbeben entwickelt, muss sich der Bruch auch ausbreiten können. Je größer die Bruchfläche wächst, desto stärker wird das Beben.

Foto. Ziegelsteine einer teilweise eingestürzten Hauswand.

Beben durch Injektion

Bloß versteht man bis heute nicht genau, wann ein Bruch stoppt beziehungsweise warum sich nicht jedes kleine Beben zu einem Starkbeben entwickelt. Immerhin können Seismologen aus Beobachtungen ableiten, wie die Statistik der Bruchgrößenverteilung aussieht. Sie scheint einer strengen Gesetzmäßigkeit zu folgen: Das gilt sowohl für natürliche als auch für induzierte Erdbeben. Wir können mittlerweile auch relativ gut mit Seismizitätsmodellen abschätzen, wie sich die Erdbebenstatistik verändert, wenn sich die Spannungen im Untergrund ändern.

Das favorisierte Seismizitätsmodell berücksichtigt sowohl Spannungen durch tektonische Belastung als auch durch menschliche Aktivitäten. Da ein detailliertes Wissen über den genauen Spannungszustand und die Bruchausbreitung fehlt, erlaubt dieser Ansatz aber nur eine Wahrscheinlichkeitsvorhersage. Erdbeben auf Tag, Stunde und Magnitude genau vorherzusagen, ist damit nicht möglich.

Die Wahrscheinlichkeits-Erdbebenvorhersage ist für natürliche Erdbeben seit langem etabliert (siehe Artikel Erdbebengefährdung und -risiko) und wird zum Beispiel dazu verwendet, Baunormen für Gebäude festzulegen. Für induzierte und ausgelöste Erdbeben wurde eine probabilistische Gefährdungsanalyse aber bisher noch nicht konsequent durchgeführt.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/erde/erdinneres/induzierte-erdbeben/