Tiefbohrungen – Blicke in die Erdkruste

Rolf Emmermann

Bohrplattform

Um den Untergrund zu erforschen, bohren Geowissenschaftler mehrere tausend Meter tiefe Löcher. Die Informationen, die sie dabei gewinnen, kommen zahlreichen Fachgebieten zugute: In Sedimenten sind Klimaarchive verborgen, Bohrungen an Vulkanen verraten die Mechanismen von Eruptionen und Bohrkerne von tektonischen Störungszonen enthüllen, wie Erdbeben entstehen. Im Internationalen Kontinentalen Bohrprogramm ICDP werden die Bohrungen koordiniert, die auf dem Festland stattfinden.

Zwei Fotos. Bohranlage mit Turm und seitlicher Hebevorrichtung.

Neue Bohranlage des GFZ

Es ist 9101 Meter tief und befindet sich in der Nähe von Windischeschenbach in der Oberpfalz: das tiefste Loch Deutschlands; das zweittiefste der Welt. Die Bohrkronen drehten sich von 1987 bis 1994. Anschließend konnten zahlreiche Experimente gemacht werden, zum Beispiel für die Erdbebenforschung. Nur auf der russischen Halbinsel Kola östlich von Finnland ging es einst noch tiefer hinab als in der Oberpfalz – 12.262 Meter. Das hört sich gewaltig an, dabei entspricht diese Länge bloß einem Tausendstel des Erddurchmessers. Allein die kontinentale Erdkruste ist 30 bis 60 Kilometer dick.

Forschungsbohrungen sind nichtsdestoweniger ein wesentliches Instrument der Geowissenschaften. Sie erlauben einzigartige Blicke in den Untergrund, gleichsam als „Teleskope ins Erdinnere“. Sie eröffnen die dritte Dimension – den Raum – und erschließen wie ein Stich durch die Erdgeschichte auch die vierte Dimension – die Zeit. Nur durch Tiefbohrungen lassen sich direkte Informationen vom Zustand vor Ort im Untergrund gewinnen. Man kann so Hypothesen und Modelle testen, die anhand von Beobachtungen an der Erdoberfläche, mit Hilfe von geophysikalischen Tiefensondierungen oder im Labor entwickelt wurden. Außerdem helfen die Bohrungen dabei, indirekte Verfahren der Tiefenerkundung zu eichen, zum Beispiel die seismischen Methoden. Und schließlich können die Löcher, die bei den Bohrungen entstehen, als „Tiefenlabore“ für Langzeitmessungen und Experimente genutzt werden. Dabei stehen das tektonische Spannungsfeld, die Temperaturverteilung und Fluide (Flüssigkeiten und Gase) im Fokus.

In einem internationalen Forschungsprogramm, dem International Continental Scientific Drilling Program (ICDP), werden die weltweiten Bohrprojekte aufeinander abgestimmt und koordiniert. Der Sinn des Programms besteht gemäß der Zielvereinbarung darin, „exakte, grundlegende und weltweit relevante Kenntnisse über Zusammensetzung, Struktur und Prozesse in der Erdkruste zu gewinnen“. Gegründet wurde das ICDP im Jahr 1996 von Deutschland, den USA und China (siehe blauen Kasten). Heute sind siebzehn Länder Mitglieder des ICDP. Geleitet wird das Programm vom GeoForschungsZentrum Potsdam.

Foto. Bohrplattform auf einem See schwimmend.

Bohrinsel auf dem Bosumtwi-Kratersee

In zwei wichtigen ICDP-Projekten der letzten Jahre ging es um die Klimaforschung. Bekanntlich konservieren die Ablagerungen in Seen Informationen darüber, wie das Klima in der Vergangenheit war – solche Sedimente wurden 2005 aus dem Malawi-See in Ostafrika und 2006 aus dem Petén Itzá-See in Guatemala geborgen. Die Projekte waren technisch aufwendig, denn die Bohrungen mussten in beiden Fällen am Boden des Sees, Hunderte Meter unter der Wasseroberfläche, angesetzt werden. Beide Seen befinden sich in den Tropen, was für Paläoklimatologen interessant ist. Sie benötigen nämlich mehr Daten zu den Klimaschwankungen der vergangenen Jahrhunderttausende aus der äquatornahen Region. Anhand des 1327 Meter langen Bohrkerns aus Guatemala und des 380 Meter langen Kerns aus dem Malawi-See soll nun untersucht werden, wie sich die Innertropische Konvergenzzone verändert hat – das ist der Bereich, in dem die Sonneneinstrahlung auf der Erde am größten ist und die Passatwinde aus Nord und Süd zusammenlaufen.

Auch die Krater von Meteoriteneinschlägen eignen sich für Tiefbohrungen im Rahmen der paläoklimatologischen Forschung. Der Bosumtwi-See in Ghana, der sich knapp nördlich des Äquators befindet, geht auf einen Einschlag eines kosmischen Projektils mit etwa 1 Kilometer Durchmesser vor 1,07 Millionen Jahren zurück. Von Juli bis Oktober 2004 wurden dort insgesamt 16 Löcher bis in eine Tiefe von maximal 540 Metern gebohrt. Der Lohn der Arbeit sind Klimadaten der vergangenen eine Million Jahre aus dem tropischen Westafrika. Anhand dieser Daten soll beispielsweise analysiert werden, wie die Wassertemperatur des Atlantiks mit den Dürreperioden im Sahelgürtel zusammenhängen. Außerdem sollen die Bohrkerne des Bosumtwi-Sees mit den Untersuchungen in anderen Einschlagkratern verglichen werden – etwa im Nördlinger Ries und im Chicxulub-Krater in Mexiko, um Informationen über Kraterstrukturen und die Auswirkung von Einschlägen zu gewinnen.

Infografik in zwei Teilen. Erster Teil: Karte mit dem Verlauf der San-Andreas-Störung in Kalifornien. Zweiter Teil: Grafischer Schnitt durch die Erdkruste mit dem Bohrloch.

Bohrung an der San-Andreas-Störung

Dass Tiefbohrungen in seismisch aktiven Gebieten stattfinden, ist wohl kaum überraschend, wenn man an das vitale Interesse der Menschheit an der Erdbebenforschung denkt. Die San-Andreas-Störungszone in Kalifornien war das Ziel eines Bohrprojekts, das von Juni 2004 bis September 2007 dauerte. Zunächst verlief die Bohrung zwei Kilometer senkrecht in die Tiefe, bevor die Bohringenieure eine Ablenkung von etwa 50⩝ in Richtung der San-Andreas-Verwerfung einleiteten. In über drei Kilometern Tiefe durchquerte der Bohrmeißel dann die Störung, eine relativ breite Zone zerbrochenen Gesteinsmaterials, in dem zwei eng begrenzte Zonen identifiziert wurden, in denen gegenwärtig aktive tektonische Verschiebungen stattfinden. Aus diesen Erdbebenbruchflächen konnten erstmals überhaupt Gesteinsproben entnommen werden, die Auskunft über Deformationsmechanismen und Ursachen von Erdbeben geben. Die Bohrung soll nun zu einem seismischen Tiefenobservatorium ausgebaut und mit einer Vielzahl von Geräten bestückt werden.

Die spektakulärsten Erscheinungen der Geodynamik und der damit gekoppelten magmatischen Vorgänge – die Vulkane – sind ebenfalls schon angebohrt worden. 2004 endete ein Projekt am Vulkan Unzen auf der japanischen Insel Kyushu. Als die Forscher die Magmazufuhrkanäle einige hundert Meter unter dem Krater erreichten, erlebten sie eine Überraschung. Obwohl die letzte Eruption keine zehn Jahre zurücklag, war die Temperatur des Gesteins bereits auf unter 180°C abgesunken. Eindringendes Grundwasser hatte das Magma offenbar rasch abgekühlt. Bohrungen wie die in Japan werden aber nicht nur deshalb durchgeführt, weil sich Vulkanologen dafür interessieren. Die Bohrlöcher lassen sich auch dazu nutzen, geothermische Ressourcen anzuzapfen. Auf Island geschieht dies schon seit vielen Jahren. Hier sollen jetzt in Zusammenarbeit mit isländischen Geothermiefirmen weltweit erstmals überkritische Fluide erforscht werden – das ist wissenschaftliches Neuland und eine große Herausforderung (überkritisch sind Fluide bei einer Temperatur-Druck-Kombination, die keine Unterscheidung zwischen flüssig und gasförmig erlaubt).

In weiteren Bohrungen geht es um die Umwandlung von Gesteinen an tektonischen Plattengrenzen, um Bakterien, die in Vorkommen von Gashydraten leben, oder um Hot Spots wie unter dem Archipel von Hawaii. Seit Gründung des ICDP sind insgesamt bereits 21 Tiefbohrungen vollendet worden. Weitere Bohrungen laufen derzeit schon oder befinden sich in Planung. Durch all diese Projekte hat sich das ICDP zu einem internationalen Vorhaben entwickelt, das fast alle Aspekte der Geowissenschaften umfasst und Forscher der verschiedensten Länder mit ihrem jeweiligen kulturellen Hintergrund zusammengeführt hat.

Das Internationale Kontinentale Bohrprogramm

Ins Leben gerufen wurde das International Continental Scientific Drilling Program (ICDP) im Februar 1996 von den USA, China und Deutschland. Dadurch sollte die geowissenschaftliche Erforschung der Kontinentalbereiche mittels Bohrungen weltweit koordiniert werden. Inzwischen sind auch Japan, Kanada, Mexiko, Österreich, Norwegen, Polen, Tschechien, Island, Finnland, Südafrika, Italien, Spanien, Schweden und die Schweiz zu Mitgliedern geworden. Vier weitere Länder verhandeln derzeit über den Beitritt. Die UNESCO und die Explorationsfirma Schlumberger sind assoziierte Mitglieder des Programms.

Die wichtigsten Forschungsthemen des ICDP sind:

  • Klimadynamik und Änderung der globalen Umwelt
  • Aktive Verwerfungen und Erdbebenprozesse
  • Vulkanische Systeme und Geothermie
  • Meteoriteneinschläge und Massenaussterben
  • „Tiefe Biosphäre“ und frühe Lebensformen
  • Aufbau und Eigenschaften des oberen Erdmantels
  • Konvergente Plattengrenzen und Kollisionszonen
  • Mineralische Rohstoffe und Energieressourcen

Das Vorbild für die Entwicklung des ICDP war das Ozeanbohrprogramm, das in den USA gegründet und 1975 für eine internationale Beteiligung geöffnet wurde. Es läuft heute unter der Bezeichnung Integrated Ocean Drilling Program (IODP). Beide Forschungsprogramme – das IODP und das ICDP – konzentrieren sich auf die Untersuchung des „Systems Erde“ durch Bohrungen. Doch während das IODP vorwiegend in internationalen Gewässern arbeiten kann, ist das ICDP immer auf die Mithilfe des Landes angewiesen, in welchem die Bohrung stattfinden soll.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/erde/erdinneres/tiefbohrungen/