„Die KI gibt uns eine zweite Meinung“
Gabriele Schönherr
Lawinen gehören zu den größten Naturgefahren in den Alpen und auch anderen Gebirgen. Um vor den enormen Gefahren zu schützen, veröffentlichen alle Länder im Alpenraum während der Wintersaison täglich Lawinenprognosen – doch die Vorhersagen sind komplex. Ob eine Lawine ausgelöst wird, hängt von vielen Faktoren ab, wie zum Beispiel der Hangneigung, der Boden- und Schneebeschaffenheit sowie dem Wetter- und Temperaturverlauf über den gesamten Winter. Seit dem letzten Winter unterstützt ein KI-Modell die Vorhersagen der Expertinnen und Experten in der Schweiz. Wie diese neue Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine funktioniert, berichtet die Geophysikerin Cristina Pérez Guillén vom WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF in Davos im Interview mit Welt der Physik.
Welt der Physik: Was hat Sie zur Lawinenforschung gebracht?
Cristina Pérez Guillén: Die Geophysik und meine Leidenschaft für die Berge. Schon lange bevor ich an das SLF gewechselt bin, habe ich als Doktorandin an der Universität Barcelona in Zusammenarbeit mit dem SLF seismische und Infraschall-Sensoren eingesetzt, um an einer Station in der Schweiz Lawinen zu detektieren. Diese Art Sensoren nutzt man üblicherweise zur Erdbebenüberwachung – wir haben die Technik auf Lawinen übertragen.
Das ist also noch echte Feldarbeit?
Genau. Man installiert einen Sensor, detektiert die Lawinen und zeichnet die Signale auf. Zu meiner Arbeit gehörte damals, die Signale zu klassifizieren – zum Beispiel nach Lawinengröße und Lawinentyp. Ich habe versucht, so viele Informationen wie möglich aus den Daten herauszuziehen, um die Überwachungssysteme zu verbessern. Heute trainieren wir Künstliche Intelligenz, also KI, um Signale in großen Datensätzen automatisch zu klassifizieren.
Wo überall setzen Sie KI in der Lawinenforschung noch ein?
Die KI kann uns wie gesagt helfen, Muster in Daten zu erkennen. Wir setzen sie daher für die Datenanalyse ein – und seit einigen Jahren eben auch, um unsere Lawinenvorhersagen zu verbessern. In einem Projekt in Kooperation mit dem Swiss Data Science Center haben wir mithilfe von maschinellem Lernen die Vorhersagemodelle für Lawinen weiterentwickelt. Wir haben das KI-Modell mit meteorologischen Daten und Daten von Schneedeckensimulationen für verschiedene Ziele trainiert. Ein Ziel war dabei die Prognose von Gefahrenstufen für den Lawinenlagebericht.
Wer verfasst eigentlich den Lawinenlagebericht und was beinhaltet er?
Am SLF ist im Winter ein achtköpfiges Team dafür verantwortlich, täglich ein Lawinenbulletin für die Schweizer Alpen herauszugeben. Dazu treffen sich jeden Nachmittag zur gleichen Zeit drei Prognostikerinnen und Prognostiker und tragen alle relevanten Informationen zusammen. Sie analysieren die meteorologische Situation, zum Beispiel wie viel Neuschnee und wie viel Wind es gegeben hat, und schauen sich die Wettervorhersagen der nächsten 24 Stunden an. Zusätzlich berücksichtigen sie – sofern vorhanden – aktuelle Beobachtungen aus dem Gelände. Mit diesen verschiedenen Puzzlestücken beurteilen sie die Lawinensituation in der gesamten Schweiz. Im Lawinenbulletin benennen sie dann regionale Gefahrenstufen von 1, der niedrigsten Stufe, bis 5, der höchsten Lawinengefahr.
Und wie kommt die KI dabei ins Spiel?
Das KI-Modell haben wir zu Beginn mit Daten aus insgesamt 20 Jahren trainiert, damit es eigenständig Vorhersagen für die regionalen Gefahrenstufen treffen kann. Für das Training haben wir neben Wetterdaten auch Schneedeckensimulationen aus einem Modell namens SNOWPACK genutzt. Das ist ein am SLF entwickeltes, physikalisches Modell, das seit mehr als zwei Jahrzehnten eingesetzt wird. Heute gibt es in den Schweizer Alpen über 100 automatische Wetterstationen, die kontinuierlich Daten aufzeichnen. Anhand dieser Messdaten modelliert SNOWPACK für jede Station ein Schneeprofil.
Was sind Schneeprofile?
Schneeprofile sind komplex: Man kann sie sich wie ein Sandwich mit vielen verschiedenen Schneeschichten mit unterschiedlichen Eigenschaften vorstellen. Aus jeder Schicht kann ich auf unterschiedliche Weise viele verschiedenen Informationen auslesen, zum Beispiel die Dichte des Schnees, den Wassergehalt und so weiter. Das neue KI-Modell interpretiert die von SNOWPACK modellierten Schneeprofile und kann mittels geostatistischer Methoden nun auch die Ergebnisse auf weitere Orte zwischen den Stationen übertragen und dann auch dort die Gefahrenstufen einschätzen.
Haben Sie das Modell dann direkt genutzt?
Als wir das Modell zum ersten Mal in Echtzeit getestet haben, hatten nur mein Kollege und ich Zugriff. Das war sehr spannend: Wir haben uns jeden Tag hingesetzt und gesagt: Vergleichen wir Mensch und Maschine. Am Ende des Winters waren wir sehr zufrieden mit den Ergebnissen und haben das Modell dem menschlichen Team der Lawinenwarnung vorgestellt. Seit dem Winter 2023/24 läuft es kontinuierlich jeden Tag in der Wintersaison. Das SLF-Vorhersageteam trifft sich aber trotzdem wie zuvor jeden Tag. Doch am Ende der Sitzung, wenn sich alle bereits auf regionale Gefahrenstufen geeinigt haben, schauen sich die Teammitglieder zusätzlich die Vorhersagekarten des KI-Modells an und vergleichen sie mit ihrer eigenen Einschätzung.
Mensch oder Maschine: Wer hat in der Regel recht?
Das Modell ist ähnlich genau wie die menschlichen Expertinnen und Experten. Interessant ist, dass Mensch und Maschine unterschiedliche Fehler machen. Die Menschen liegen in ihrer Einschätzung an Tagen falsch, an denen die Maschine richtig liegt und umgekehrt. Das ist gut, denn so haben wir eine zweite Einschätzung. Wenn das Modell versagt, liegt es meistens daran, dass wir nicht genügend Ausgangsdaten für das Training hatten. Statistisch gesehen sind die Gefahrenstufen 2 und 3 am häufigsten. Daher sind diese Muster für die KI am einfachsten zu erlernen. Je seltener eine Gefahrenstufe in der Vergangenheit aufgetreten ist, desto schwieriger wird es. Dies ist bei Gefahrenstufe 4 der Fall, für die es viel weniger Vorhersagedaten und auch weniger Untersuchungen und Beobachtungen aus dem Feld gibt. Denn dann war es oft nicht möglich oder zu gefährlich, im Gelände unterwegs zu sein. Wir arbeiten deshalb daran, das Modell besonders für diese Fälle weiter zu verbessern.
Wird die KI die menschliche Vorhersage dann irgendwann ablösen?
Ab dem kommenden Winter werden die Einschätzungen der Expertinnen und Experten dann automatisch mit dem Modell verrechnet, um so einen Vorschlag für die Prognose zu erhalten. Aber ich denke, wir werden immer Menschen brauchen, um die Ergebnisse der Modelle richtig einzuordnen. Unser Ziel ist es, mithilfe der KI eine zweite Meinung bereitzustellen, nicht die menschliche Vorhersage zu ersetzen.
Spielt der Klimawandel auch schon eine Rolle in Ihrem KI-Modell?
Die Lawinenaktivität wird sich durch den Klimawandel ändern, sie hat sich bereits verändert. Das sehen wir auch schon bei anderen Naturgefahren: Die Ereignisse werden extremer. Unsere Modelle lernen aus den Mustern der Vergangenheit, aber irgendwann müssen wir wahrscheinlich aufhören, sehr weit zurückliegende Daten zu verwenden und die Modelle anhand von Mustern in aktuelleren Datensätzen trainieren.
Lässt sich das KI-Modell auf andere Gebirge übertragen?
Das Modell ist ein Open-Source-Modell und kann daher grundsätzlich frei verwendet werden. Wir arbeiten derzeit auch mit Forschenden und Vorhersageteams aus dem restlichen Europa, Kanada und den USA zusammen und testen unser Modell für Gebirgsgruppen in anderen Ländern. Dabei versuchen wir herauszufinden, inwieweit es auf andere Orte übertragbar ist. Das ist nicht klar, denn das Modell hat die Muster einer bestimmten Region gelernt und an anderen Orten gelten andere Gegebenheiten und klimatische Bedingungen. Es ist daher absolut wichtig, das Modell immer zunächst zu testen und zu validieren, nicht einfach blind zu nutzen. Für neue Gebiete brauchen wir einen ähnlichen Input, also meteorologische Daten und Daten von Schneeprofilen.
Wo sehen Sie das größte Entwicklungspotenzial?
Unser Ziel ist, Modelle zu entwickeln, die sich wirklich als praktisches Warnsystem einsetzen lassen. Gerade in abgelegenen Gebieten, für die kaum Messdaten vorhanden sind, und in Ländern, die zu wenig Ressourcen für aufwendige Vorhersagen von Lawinen und anderen Naturgefahren haben, können KI-Modelle extrem hilfreich sein. Das Problem ist jedoch meist die Datenbasis. In vielen Ländern gibt es nicht genügend Daten, um ein Modell wirklich von Grund auf zu trainieren. Wir arbeiten also auch daran, wie wir Informationen extrahieren können, mit denen dann das KI-Modell besser arbeiten kann.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/erde/geophysik-lawinen-die-ki-gibt-uns-eine-zweite-meinung/