„Wir lassen Atome fallen“
Unsere Erde ist über fünf Trilliarden Tonnen schwer. Diese enorme Masse spüren wir über die Schwerkraft, die uns auf dem Boden hält. Doch das Schwerefeld ist nicht überall auf der Erdoberfläche gleich stark. Diese lokalen Unterschiede vermessen Forscher mithilfe der Gravimetrie. Holger Müller von der University of California und seine Kollegen haben nun eine neue, mobile Methode entwickelt, mit der sich der absolute Wert der Schwerkraft sehr genau bestimmen lässt. Im Interview mit Welt der Physik erzählt Holger Müller, wie sie dafür fallende Atome nutzen.
Welt der Physik: Was ist Gravimetrie und wofür wird sie genutzt?
Holger Müller: Gravimetrie ist eine Methode, um das Schwerefeld unserer Erde zu vermessen. Das Schwerefeld gibt an, wie stark ein Gegenstand an verschiedenen Orten auf der Erdoberfläche beschleunigt wird. Da das Erdinnere unterschiedlich beschaffen ist, gibt es minimale Unterschiede im Schwerefeld. Mit der Gravimetrie können Geophysiker dann beispielsweise das Erdinnere erforschen, ohne in den Boden zu bohren. Die Schwerkraft ist etwa über einer Eisenerzschicht stärker als über einer Sandschicht, da Sand eine geringere Dichte als Eisenerz besitzt. Deshalb kann man aus der Stärke des Schwerefeldes auch auf die Beschaffenheit des Erdinneren schließen.
Wie lässt sich das Schwerefeld der Erde messen?
Es gibt unterschiedliche Methoden, das Schwerefeld zu messen. Ein einfaches Beispiel ist ein Pendel, aus dessen Schwingung sich die Erdbeschleunigung bestimmen lässt. Doch die lokalen Unterschiede, die man in der Gravimetrie auflösen möchte, sind meist sehr klein. Dafür benötigt man genauere Methoden, wie etwa sogenannte relative Gravimeter. Diese Messinstrumente bestehen beispielsweise aus einer Feder, an der eine Masse befestigt ist. Je stärker das Schwerefeld ist, desto stärker wird die Feder ausgelenkt. Allerdings kann man damit nicht die genaue Stärke der Schwerkraft bestimmen, sondern nur relative Änderungen im Schwerefeld.
Gibt es andere Methoden, um den absoluten Wert der Schwerkraft zu vermessen?
Ja, indem man die Beschleunigung von Objekten im freien Fall untersucht. Dafür lassen Forscher beispielsweise einen Spiegel im Vakuum fallen und bestrahlen ihn zusätzlich von unten mit einem Laser. Der vom Spiegel zurückgeworfene Lichtstrahl trifft dann wieder auf den ursprünglichen Lichtstrahl, wodurch sich die Lichtwellen ähnlich wie Wasserwellen überlagern. So entsteht ein charakteristisches Muster – ein sogenanntes Interferenzmuster. Mithilfe des Musters lässt sich die Weglänge des Lichtstrahls – und daraus die Beschleunigung des Spiegels – sehr genau bestimmen. Das Problem dieser absoluten Gravimeter ist allerdings, dass die Apparate sehr fragil sind und sich mit der Zeit abnutzen.
Wie möchten Sie dieses Problem lösen?
Wir nutzen ein Atominterferometer und beobachten anstelle von Spiegeln viele Cäsiumatome im freien Fall. Zunächst halten wir eine Atomwolke aus etwa fünfzig Millionen Atomen mit Magnetfeldern und einer optischen Falle aus Laserstrahlen zusammen. Danach öffnen wir diese magneto-optische Falle, die Atome beginnen in einer Vakuumkammer nach unten zu fallen und mithilfe eines zusätzlichen Laserstrahls teilen wir die Atomwolke auf. Eine Hälfte der Atome wird von dem Laser getroffen und um etwa einen Zentimeter pro Sekunde verlangsamt – die andere Hälfte bewegt sich ungestört in freiem Fall weiter. Mithilfe von weiteren Laserpulsen lassen sich die zwei Teile dann wieder zusammenführen, sie überlagern sich und es entsteht wiederum ein Interferenzmuster. Denn laut der Quantenmechanik lassen sich Atome nicht nur als Teilchen, sondern gleichzeitig auch als Wellen beschreiben. Aus diesem charakteristischen Muster können wir dann Informationen über die Beschleunigung, die die Atome während ihres Falls erfahren, gewinnen.
Welche Vorteile hat dieses Atominterferometer?
Ein atomares Gravimeter basiert auf Interferenzeffekten und misst deswegen – ähnlich wie optische Interferometer – die absolute Schwerkraft sehr genau. Denn schon winzige Änderungen der Schwerkraft haben einen großen Einfluss auf das Interferenzmuster der beobachteten Atome. Im Vergleich zum fallenden Spiegel haben Atome den Vorteil, dass alle Atome einer Art gleich sind. Das Gravimeter lässt sich also auch immer unter den gleichen Bedingungen nutzen. Außerdem können wir unseren Aufbau auf einen Lastwagen montieren und das Gravimeter flexibel einsetzen.
Wo haben Sie Ihr Gravimeter bereits getestet?
Wir sind mit unserem Atominterferometer über die Hügel Berkeleys gefahren und haben an sechs verschiedenen Orten das Schwerefeld vermessen. Aus den Messdaten konnten wir die mittlere Dichte der Hügel in Berkeley berechnen. Das Ergebnis haben wir mit dem offiziellen Wert der United States Geological Survey verglichen – sie stimmen überein. Durch Zufall haben wir außerdem einige Monate später von Erdbeben in Südamerika erfahren, die sich gleichzeitig zu unseren Messungen ereignet haben. In unseren Messdaten konnten wir dann auch erstaunlicherweise Auswirkungen der Erdbeben auf das Schwerefeld wiederfinden.
Was sind nächste Schritte Ihrer Forschung?
Als nächsten Schritt möchten wir das Gravimeter auf einer Drohne montieren, um damit das Schwerefeld auch an schwer zugänglichen Orten zu messen. Denn unser Ziel ist es, eine Karte mit möglichst vielen Messpunkten zu erstellen und das Schwerefeld der Erde damit noch genauer zu rekonstruieren. Und ich bin ziemlich sicher, dass das Atominterferometer dann irgendwann als Gravimeter genutzt wird.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/erde/nachrichten/2019/wir-lassen-atome-fallen/