Lockdown als Glücksfall

Als wegen COVID-19 die menschliche Aktivität ruhte, konnten Seismologen schwache natürliche Erdbeben viel ungestörter aufzeichnen als sonst.

Sven Titz

Foto einer menschenleeren Straße

littleny/iStock

Zeichnet man Erdbeben mit Seismometern auf, so werden leichte Erdbeben oft durch von Menschen hervorgerufene Erdschwingungen verdeckt. Seismologen möchten die beiden Signaltypen gerne besser voneinander unterscheiden. Eine gute Gelegenheit für eine Untersuchung bot der Lockdown, der wegen der Ausbreitung von COVID-19 verhängt wurde. Denn währenddessen verringerte sich die Aktivität der Menschen sehr. Schwache hochfrequente Erdbeben seien in diesem Zeitraum um bis zu fünfzig Prozent zurückgegangen, berichtet jetzt ein Forscherteam im Wissenschaftsmagazin „Science“.

Von insgesamt 268 seismologischen Messstationen werteten die Wissenschaftler um Thomas Lecocq von der Königlichen Sternwarte Belgiens in Brüssel die Erdbebenmessungen während der Lockdown-Maßnahmen aus. An 185 dieser weltweit verteilten Stationen fanden sie einen deutlichen Rückgang des sogenannten seismischen Rauschens. Darunter versteht man schwache Erdschwingungen mit hoher Frequenz. Das Team konzentrierte sich in ihrer Studie auf Frequenzen zwischen 4 und 14 Schwingungen pro Sekunde.

Der Rückgang der Schwingungen begann dort, wo auch der Lockdown seinen Anfang nahm: in China, Ende Januar 2020. Im März folgte Europa und anschließend der Rest der Welt. Zugleich mit dem seismischen Rauschen nahm oft auch der Verkehr und die Lärmbelastung ab – weitere Belege dafür, dass der Rückgang der menschlichen Aktivität der Auslöser für die seismischen Veränderungen war. Am stärksten verringerte sich das seismische Rauschen an Orten mit hoher Bevölkerungsdichte, also vor allem in Städten. Auch an Schulen und an Orten mit viel Tourismus – etwa auf der Zugspitze und auf Barbados – zeichnete sich ein starker Rückgang der Schwingungen ab. Eher schwach war der Effekt in ländlichen Regionen.

Die Forscher um Lecocq hoffen nun, dass sich anhand der erhobenen Daten die Auswertung seismischer Schwingungen verbessern lässt. Schwache hochfrequente Erschütterungen sind ein sehr aufschlussreicher Teil des Erdbebenspektrums. Sie treten zum Beispiel auf, wenn Erdplatten ganz langsam aneinander vorbeischrammen. Verhaken sich die Platten, setzen die schwachen Erdbeben aus – ein Indiz dafür, dass die Spannung wächst. Leichte Erschütterungen löst auch Magma aus, das in einem Vulkan aufsteigt.

In vielen Erdbebenkatalogen fehlen jedoch die schwachen Ereignisse, weil sie sich von den von Menschen verursachten Schwingungen so schwer unterscheiden lassen. Diese Kataloge enthalten also nur Erdbeben, deren Magnitude über einer bestimmten Schwelle liegt. Wie Lecocq und seine Kollegen schreiben, lassen sich in den Aufzeichnungen, die während des Lockdowns gewonnen wurden, typische Muster von leichten Erdbeben natürlichen Ursprungs erkennen. Anhand dieser Muster können möglicherweise die Erdbebenkataloge ergänzt werden – sowohl für die Zeit vor dem Lockdown als auch für die Zeit danach.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/erde/nachrichten/2020/lockdown-als-gluecksfall/