„Ein Prozent jedes Mikrotropfens bleibt in der Luft“

Gabriele Schönherr

Grafik: Ein grüner Kopf atmet nach rechts aus, sein grüner Atem wird wolkenartig vor schwarzem Hintergrund dargestellt

M. Jentzsch/S. Schimek/C. O. Paschereit/HFI/TU Berlin

Aerosolpartikel, feinste Schwebeteilchen, die sich über die Luft verbreiten, haben sich als ein entscheidender Übertragungsweg für das neuartige Coronavirus erwiesen. Aerosole entstehen etwa, wenn wir atmen, sprechen oder husten. Denn weil die kleinsten Tröpfchen auch feste Bestandteile enthalten, verdunsten sie nur teilweise. Die Resttröpfchen können wiederum als Aerosole noch über Minuten und Stunden – oder sogar weit darüber hinaus – in der Luft schweben. Im Interview mit Welt der Physik berichtet Rainer Koch vom Karlsruher Institut für Technologie, wie Verdunstungsexperimente mit Speicheltröpfchen dabei helfen, die Ansteckungsrisiken durch Aerosole genauer einzuschätzen.

Porträt des Wissenschaftlers Rainer Koch

Rainer Koch

Welt der Physik: In Ihrer aktuellen Studie untersuchen Sie und Ihre Kollegen, wie Speicheltropfen verdunsten. Wofür ist dieses Wissen wichtig?

Rainer Koch: Zur Ausbreitung von Aerosolen beim Atmen und Sprechen existieren inzwischen bereits einige Studien und Visualisierungen. Allerdings wird meistens Wasser stellvertretend für flüssige Aerosolpartikel verwendet – oder Zigarettenrauch für feste Aerosolpartikel. Im Fall von Wasser können zwei Dinge passieren: Ab einer bestimmten Größe fällt ein Tropfen nach einem kurzen Flug zu Boden. Dort ist er relativ ungefährlich, worin auch die bekannten Corona-Abstandsregeln begründet sind. Ist ein Wassertropfen aber klein genug – also bereits ein Aerosol –, bewegt er sich mit der Luft mit, bis er vollständig verdunstet ist. Uns hat nun interessiert: Wie verhalten sich Tropfen und Aerosole aus unserer Atemluft, die neben Wasser ja auch feste Bestandteile enthalten, wirklich?

Was kennzeichnet von Menschen ausgeatmete Tröpfchen und Aerosole?

Dazu gibt es unterschiedliche Studien. Man geht davon aus, dass sie ähnlich wie Speichel zusammengesetzt sind. Diese Aerosole enthalten also nicht nur Wasser, sondern auch feste beziehungsweise gelartige Bestandteile. Das heißt, sie sind eine komplexe Mischung aus Eiweiß, Salzen und Wasser.

Und wie verhalten sich die ausgeatmeten Aerosole im Vergleich zu Wassertropfen in der Luft?

Die typischen Aerosole, die wir ausatmen, ähneln zu Beginn einem feinen Nebel. Wenn ein Wassertropfen klein genug ist, verdunstet er innerhalb kürzester Zeit komplett. Im Speichel schwindet zwar ebenfalls der Wasseranteil relativ schnell, die Speicheltropfen verdunsten aber nicht vollständig – und das ist das Entscheidende: Es bleibt immer ein Resttropfen übrig, der ungefähr zwanzig Prozent des ursprünglichen Tropfendurchmessers besitzt, also etwa ein Prozent des Volumens. Und dieser Resttropfen ist sehr, sehr beständig – und außerdem in der Regel ausreichend groß, um weiterhin eine relevante Virenanzahl zu transportieren.

Kann das Coronavirus in diesen Tropfenresten überleben?

Die Abbildung ist in zwei Teile geteilt und zeigt jeweils zwei Personen, die sich gegenüberstehen. Eine infizierte Person gibt Speichel- beziehungsweise Wassertröpfchen ab, die durch Punkte gekennzeichnet sind. Während Wassertröpfchen zu Boden fallen, sind die Speicheltröpfchen auf der gesamten Fläche vorhanden.

Vergleich von Speichel und Wasser

Wir haben uns nur die Physik, also den Verdunstungsprozess der Tropfen angeschaut. In einer biologischen Studie wird zurzeit untersucht, ob Coronaviren unter diesen Bedingungen überleben können. Diese Experimente verwenden ein Substrat, auf das Zellnährflüssigkeit aufgebracht und mit Viren kontaminiert wurde. Das Ergebnis: Die Viren konnten bis zu dreißig Stunden auf dem Substrat überleben, auch nachdem das Wasser verdunstet war. Wenn wir jetzt die beiden Studien zusammen betrachten, bedeutet das: Sind die Aerosole erst einmal im Raum und man lüftet nicht, ist die Wahrscheinlichkeit, sich zu infizieren, auch noch nach Stunden gegeben.

Welche Rolle spielen dabei die Luftfeuchtigkeit und die Temperatur der Umgebung?

Wir konnten zeigen, dass bei typischen Umgebungsbedingungen beides absolut keine Rolle für die Größe des Resttropfens spielt. Aber die Geschwindigkeit, mit der das Wasser in der ersten Phase verdunstet, hängt von der Luftfeuchtigkeit und Temperatur ab. Und für die Viren haben diese Parameter natürlich einen großen Effekt: Tiefe Temperaturen begünstigen das Überleben der Viren. Der Einfluss der Feuchte ist noch nicht vollständig geklärt.

Wie gelingt es, Speicheltröpfchen so kontrolliert zu beobachten?

Wir machen das mit einem akustischen Levitator, indem sogenannte Piezoaktuatoren eine Schallwelle erzeugen. Gegenüber dieser Schallquelle befindet sich eine feste Oberfläche, die die Schallwelle reflektiert. Wenn man das Ganze richtig einstellt, erhält man eine stehende Welle. Wir bringen dann einen relativ großen Tropfen auf den Aktuator auf, der dort sehr fein zerstäubt. Nachdem die Tröpfchen für kurze Zeit schweben, sammeln sie sich in den Druckknoten, wo sie wieder größere Tropfen von etwa einhundert bis achthundert Mikrometern bilden. Diese freischwebenden Tropfen nehmen wir mit einer Kamera mit Mikroskop-Objektiv auf. So haben wir gemessen, wie sich die Größe der Tropfen mit der Zeit entwickelt.

Grafik: Sieben Abbildungen eines Speicheltropfens, dargestellt als Kreis, der immer kleiner wird, je weiter er verdunstet

Entwicklung eines Speicheltröpfchens


Die Lebensdauer der Tropfen und Aerosole in der Luft haben Sie hingegen berechnet. Was ist das Besondere an Ihrem Modell?

Wir haben zunächst ein ganz normales Verdunstungsmodell verwendet, dessen Parameter wir allerdings für Speicheltropfen angepasst haben. Dafür ließen sich die Ergebnisse aus unseren Experimenten verwenden. Wir haben gelernt, dass sich ein Tropfen nicht mehr weiter zusammenzieht, sobald er zwanzig Prozent seines ursprünglichen Durchmessers erreicht hat. Erst für die allerkleinsten Tröpfchen, von weniger als einem Zehntel Mikrometer Durchmesser, würde man einen zusätzlichen Effekt beobachten, weil die Oberflächenspannung relevant wird.

Was haben die Analysen Ihres Modells ergeben – wie lange können ausgeatmetete Aerosole maximal in der Luft schweben?

Die Bewegung der Aerosole hängt von dem Verhältnis zwischen Schwerkraft und Luftwiderstand ab. Wenn der Luftwiderstand sehr hoch ist, bleiben die kleinsten Aerosole quasi unendlich lange in der Luft. Sie bewegen sich dann ähnlich wie Luftmoleküle, die mitgeschleppt werden, wenn nur der kleinste Luftzug vorhanden ist. Genau das macht Aerosole so gefährlich – und das ist auch das wesentliche Ergebnis unserer Studie.

Apparatur mit Schläuchen

Im Labor

Haben Sie noch offene Fragen?

Ich würde die Speicheltröpfchen gerne mit den Viren kombinieren. Damit ließe sich praktisch direkt nachvollziehen, ob und wie die Viren unter bestimmten Umgebungsbedingungen in den Tröpfchen und Aerosolen überleben. Denn für mich stellt sich die entscheidende Frage: Was passiert tatsächlich mit den Viren?

In der Regel beschäftigen Sie sich in der Brennkammerentwicklung am KIT nicht mit Speicheltröpfchen. In dieser Studie erforschen Sie aber nun Speichel. Wie hängt das zusammen?

Eigentlich beschäftigen meine Kollegen und ich uns mit Flugtriebwerken und sauberer Verbrennung. Der Schlüssel dazu ist die Kraftstoffeinspritzung. Hier haben wir in den letzten 15 Jahren eine gewisse Expertise entwickelt. Das betrifft sowohl die Messtechnik und Experimente als auch die Simulation und Vorhersage. Teile davon haben wir auch für die Abgasnachbehandlung bei Dieselmotoren genutzt – dafür wird heutzutage eine Harnstoff-Wasserlösung in den Abgastrakt eingespritzt. Um die Harnstoffwassertropfen beim Verdunsten zu beobachten, haben wir ein spezielles Levitator-Experiment aufgebaut. Und weil Harnstofflösung sehr viel Ähnlichkeit mit Speichel hat, war es naheliegend, diesen Aufbau jetzt für die Experimente mit den Speicheltropfen zu verwenden.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/leben/ein-prozent-jedes-mikrotropfens-bleibt-in-der-luft/