„Blutgefäße haben ein Erinnerungsvermögen“
Denise Müller-Dum
Biologische Netzwerke sind dynamisch: Beispielsweise können die Adern im menschlichen Gehirn dicker oder dünner werden und sogar ganz verschwinden. Die Blutgefäße reagieren damit auf Veränderungen in der Strömungsrate. Verstopft eine Ader, etwa bei einem Schlaganfall, passt sich das Adernetzwerk an. Es ist dann verändert – selbst wenn die Verstopfung nicht mehr vorhanden ist. Im Interview mit Welt der Physik erzählt Karen Alim von der TU München, wie sie und ihre Kollegen dieses Erinnerungsvermögen mithilfe von physikalischen Modellen untersucht haben.
Welt der Physik: Inwiefern lassen sich biologische Netzwerke mithilfe der Physik beschreiben?
Karen Alim: Alle höheren Organismen – egal ob Pilze, Pflanzen oder Tiere – nutzen Netzwerke für den Transport von Ressourcen. Beim Menschen sind das beispielsweise die Blutgefäße. Der biologische Aufbau dieser Netzwerke unterscheidet sich zwischen den Spezies zwar stark. Aber sie gehorchen den gleichen physikalischen Gesetzen. Beispielsweise lässt sich der Durchmesser einer Ader an einem Knoten- beziehungsweise Verbindungspunkt mithilfe von physikalischer Modellierung vorhersagen.
Was haben Sie mit solch einem Modell betrachtet?
Wir modellieren das Gefäßsystem als röhrenförmiges Strömungsnetzwerk und untersuchen den Energieverbrauch im System. Dabei betrachten wir einerseits die Energie, die für den Aufbau des Netzwerks benötigt wird. Diese ist proportional zu dessen Volumen. Und andererseits betrachten wir die Energie, die benötigt wird, um die Strömung zu erzeugen. Wenn man dann Strömung in der Röhre hat, entsteht Reibung an den Röhrenwänden – dadurch verliert man Energie. Bei unserem Gefäßsystem kann man sich das gut vorstellen: Wenn unser Herz nicht die ganze Zeit pumpen würde, würde der Blutfluss durch unseren Körper irgendwann stoppen. Wenn man nun versucht, diese Reibungsverluste zu minimieren, bildet sich eine Hierarchie im Netzwerk. Im Fall von Blutgefäßen hängt dann beispielsweise von der Strömungsrate in den Adern ab, wie dick diese sind. Dadurch ist die Information über die Strömungsrate im System gespeichert – und wenn sich diese ändert, ändert sich auch die Form des Netzwerks. Genau das haben wir mit unserem Modell untersucht: Wir wollten wissen, wie sich das Strömungsnetzwerk verändert, wenn ich an einer Stelle die Strömungsrate erhöhe oder erniedrige.
Was ist dabei herausgekommen?
Wir haben festgestellt, dass sich der Durchmesser der Adern dort vergrößert, wo der Durchfluss größer ist – denn so können die Reibungsverluste minimiert werden. Das bedeutet im Umkehrschluss: Wenn eine Ader verstopft, haben die nachgeordneten Adern einen geringeren oder gar keinen Durchfluss. Sie werden dann immer dünner und verschwinden sogar. Das Netzwerk hat sich durch die Verstopfung unumkehrbar verändert. Wir sprechen davon, dass das Netzwerk ein Erinnerungsvermögen beziehungsweise ein Gedächtnis hat. Dieser Effekt verschwindet allerdings, wenn der Energieaufwand für den Gefäßaufbau sehr hoch ist. Denn das würde dazu führen, dass sich überhaupt keine dicken Adern mehr aufbauen. Und dann ist in dem Netzwerk auch keine Information gespeichert, weil alle Adern gleich dünn sind.
Lässt sich die Ausbildung von Hierarchien in Adernetzwerken auch direkt im Labor nachweisen?
Es gibt Daten vom Gehirn des Zebrafischs. Das wird als Modellsystem genommen, weil der Embryo transparent ist und man das Adernetzwerk sehr gut sehen kann. Bei diesem Tier bildet sich im Gehirn zunächst ein fein verästeltes Adernetzwerk. Sobald Blut durch das Netzwerk strömt, reorganisiert es sich. Manche Zellen wandern dann wirklich zu den dickeren Adern hin und vergrößern diese. Die dünnen Adern, durch die wenig hindurchfließt, verschwinden.
Ist das auch bei unserem Gehirn so?
Auch im menschlichen Gehirn haben wir ein fein verästeltes Adernetzwerk, das sehr dynamisch ist. Zwar ist genetisch grob festgelegt, wo sich bestimmte Adern befinden, aber das verästelte Netzwerk in unserem Gehirn ist sehr anpassungsfähig und hat auch ein Erinnerungsvermögen. Wenn hier eine Ader verstopft – etwa bei einem Schlaganfall – dann passen sich auch die nachgeordneten Adern an, bis sie schließlich verschwinden. Übrigens ist das ähnlich wie bei den Nervenverbindungen in unserem Gehirn. Das ist ja ein Netzwerk von Neuronen. Auch dort sind die Verbindungen, die häufig genutzt werden, besonders stark und die, die wenig genutzt werden, sind schwach. Das ist schon länger bekannt. Bei den Blutgefäßen war es hingegen eine ganz neue Erkenntnis, dass auch sie ein Erinnerungsvermögen haben.
Ist es gut oder schlecht, dass sich Blutgefäße erinnern können?
Ich will es mal so sagen: Die Erkenntnis, dass Adernetzwerke ein Erinnerungsvermögen haben, lässt sich positiv nutzen. Man könnte zum Beispiel die Strömung bewusst in einem bestimmten Bereich ändern, damit dort in Zukunft wieder besser Sauerstoff transportiert werden kann. Das heißt, die Erkenntnis, dass Adern auf Strömung reagieren, lässt sich nutzen, um die Adern sozusagen zu programmieren. Das untersuche ich mit meiner Mitarbeiterin aktuell auch an einem Modellsystem im Labor.
Welche Bedeutung haben Ihre Erkenntnisse?
Ich finde es zum Beispiel sehr spannend, darüber nachzudenken, was bei neurodegenerativen Erkrankungen passiert, durch die nicht nur die Nervenzellen abgebaut werden, sondern auch das Adernetzwerk. Meine Hypothese ist, dass auch das ein Kaskaden- oder Schneeballeffekt ist. Und wenn man versteht, warum es zu einem Schneeballeffekt kommen kann, ist das der erste Schritt, den Erkrankungen entgegenzuwirken. Der zweite wäre, zu schauen, wie man die Kaskaden verhindern könnte.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/leben/gehirn-blutgefaesse-haben-ein-erinnerungsvermoegen/