Schlangen hören Bodenschwingungen in Stereo
Entgegen bisheriger Vermutungen sind Schlangen alles andere als taub. Mit ihrem empfindlichen Innenohr und einer funktionierenden Hörschnecke registrieren sie zwar keine Schallwellen, aber dafür Bodenschwingungen, wie deutsche Biophysiker nun zeigen konnten.
München - In der Fachzeitschrift "Physical Review Letters" berichten sie, wie Schlangen ihr Hörorgan nutzen und damit zielsicher ihre Beute aufspüren können.
"Wir konnten modellieren, wie Schlangen Bodenvibrationen detektieren und Beutetiere lokalisieren", schreiben Paul Friedel von der Technischen Universität München und seine Kollegen vom Bernstein Zentrum für Computational Neuroscience. Auf der Basis anatomischer Daten der Vipernart Cerastes cerastes berechneten sie, wie Vibrationen in Sand von den Tieren verarbeitet werden. Wie Wellen in einem Teich breiten sich die Erschütterungen über die lockere Oberfläche aus. Sie erreichen Geschwindigkeiten von bis zu 50 Metern pro Sekunde mit einer winzigen Amplitude von wenigen tausendstel Millimetern.
Durch eine Kombination von Forschungsansätzen aus der Biomechanik, der Schiffsbautechnik und der Modellierung neuronaler Schaltkreise konnten die Biophysiker das Geheimnis um den Hörsinn der Reptilien lüften. Wenn eine Schlange ihren Kopf auf den Sand legt, werden die beiden Hälften des Unterkiefers durch die eintreffende Welle in Schwingung gebracht. Diese Schwingungen werden dann über eine Reihe von Knochen, die mit dem Unterkiefer verbunden sind, ins Innenohr übertragen. Dieser Prozess ist vergleichbar mit der Weiterleitung akustischer Signale durch die Hörknöchelchen im menschlichen Mittelohr.
Da die linke und rechte Hälfte des Unterkiefers einer Schlange nicht starr zusammenhängen, können beide Seiten unabhängig voneinander schwingen. Eine Bodenschwingung, die von rechts kommt, wird die rechte Hälfte des Unterkiefers minimal früher erreichen, als die linke Seite und umgekehrt. Aus dieser Zeitdifferenz ermittelt das Hirn der Schlange exakt die Richtung, aus der die Welle auf sie zugekommen ist. Dieser Stereoeffekt ist direkt vergleichbar mit dem normalen Hörsinn von Tieren, die über die Wahrnehmung von Schallwellen im rechten und im linken Ohr ebenfalls die Position der Schallquelle ausmachen können.
Die außergewöhnliche Beweglichkeit des Unterkiefers der Schlange ist in der Evolution entstanden, weil die Fähigkeit der Schlange, auf diese Weise sehr große Beutetiere verschlingen zu können, einen großen evolutionären Vorteil bietet, wenn Futterressourcen knapp sind und die Konkurrenz hart ist. Erst durch die Trennung der Unterkieferhälften wurde es möglich, auch diese besondere Form des Hörens hervorzubringen.
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Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/leben/nachrichten/2008/schlangen-hoeren-bodenschwingungen-in-stereo/