Die Physik demokratischer Wahlen

Mit physikalischen Modellen eines Vielteilchensystems lassen sich extreme Ergebnisse von Wahlen erklären.

Jan Oliver Löfken

Hand wirft Briefumschlag in Wahlurne

Paperkites

Mit physikalischen Modellen lassen sich nicht nur das Verhalten von Schwarzen Löchern, Lasern oder fallenden Äpfeln beschreiben. Auch gesellschaftliche Prozesse – an denen sehr viele Menschen beteiligt sind – zeigen Parallelen zu physikalischen Theorien. So kann etwa die Entwicklung eines Verkehrsstaus mithilfe der Thermodynamik beschrieben werden. Nun fanden Physiker sogar eine Analogie zwischen dem Ausgang von Wahlen und einem Vielteilchensystem. In der Fachzeitschrift „Nature Physics“ verglichen die Forscher zunehmend extreme Wahlausgänge mit einem instabilen magnetischen System.

Für ihre Analyse betrachteten Alex Siegenfeld vom Massachusetts Institute of Technology und Yaneer Bar-Yam vom New England Complex Systems Institute zunächst die Zunahme extremer Meinungen von Wählern in den USA. Diese Polarisierung analysierten sie am Beispiel des Wechsels vom demokratischen Präsidenten Barack Obama zum Republikaner Donald Trump. Dafür verglichen Siegenfeld und Bar-Yam den Wahlausgang im Jahr 2016 mit einem magnetischen System während eines Phasenwechsels: In einem solchen System führen schon geringe Änderungen von äußeren Randbedingungen zu einem grundlegenden Wechsel der physikalischen Eigenschaften des Systems. Solche instabilen Bedingungen – verursacht durch stark polarisierte Meinungen in der Wählerschaft – seien nach Aussage der Forscher wesentlich dafür verantwortlich, dass es auch bei demokratischen Wahlen zu drastischen Umschwüngen komme.

Auf Grundlage des physikalischen Modells betrachteten die Forscher auch die US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen seit dem Zweiten Weltkrieg genauer. „1970 trat ein Phasenwechsel auf und die Wahlen wandelten sich von stabil zu instabil“, sagt Bar-Yam. Mit Roosevelt, Eisenhower oder Kennedy wurden unabhängig von der Parteizugehörigkeit Kandidaten mit eher ausgewogenen Überzeugungen gewählt. Doch ab 1970 nahm die Instabilität zu, was von Reagan über Bush und Clinton bis Obama und Trump zu Präsidenten mit stärker polarisierten Meinungen geführt habe. Dieser Entwicklung könne, so die Forscher, vor allem eine größere Wahlbeteiligung entgegenwirken. „Mit einer hohen Wahlbeteiligung sind nicht nur mehr Wählermeinungen vertreten, sondern daraus folgt auch eine langfristige Stabilität der Demokratie“, so Siegenfeld.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/leben/nachrichten/2020/die-physik-demokratischer-wahlen/