„Neutronen als Sonde“
Dirk Eidemüller
Für die Suche nach Medikamenten und Impfstoffen ist eine genaue Kenntnis der Struktur von Krankheitserregern essenziell. Dabei gibt es unterschiedliche Methoden, um Viren wie etwa das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 zu untersuchen. Während Forscher mithilfe von Röntgenstrahlen einen ersten Überblick über die Virusproteine erhalten, lässt sich mit Neutronenstrahlen die exakte chemische Struktur der Erreger untersuchen. Von diesen einzigartigen Einblicken berichtet Wiebke Lohstroh von der Technischen Universität München im Interview mit Welt der Physik.
Welt der Physik: Wie kann man Neutronen einsetzen, um Medikamente oder Impfstoffe zu finden?
Wiebke Lohstroh: Wir können mit Neutronen sowohl die Struktur als auch die Dynamik von Proteinen bestimmen. Das hilft Biochemikern und Virologen, die Form und Funktion verschiedener Virenbestandteile zu verstehen, und erleichtert so die Suche nach Wirkstoffen. Es gibt verschiedene Methoden, die hierbei zum Einsatz kommen können, wofür uns am Heinz Maier-Leibnitz Zentrum jeweils mehrere Instrumente zur Verfügung stehen. Als Sonde nutzen wir Neutronen, die von unserer Forschungsneutronenquelle FRM II in Garching stammen und die mithilfe spezieller Neutronenleiter dann zu den einzelnen Messstationen gelenkt werden.
Wie untersuchen Sie die molekulare Struktur mit Neutronen?
Wir nutzen die Neutronenkristallografie mit sogenannten kalten Neutronen – also Neutronen mit einer vergleichbar niedrigen Energie. Mit diesen Neutronen durchleuchten wir einen Kristall, der aus gleichförmig angeordneten Virenproteinen besteht. Aus dem Streumuster, das ein Detektor hinter dem Kristall aufzeichnet, lässt sich am Computer die Struktur des Proteins berechnen. Auf diese Weise erhält man ein dreidimensionales Bild mit beinahe atomarer Genauigkeit.
Gibt es noch andere Möglichkeiten?
Ja, zwei verwandte Techniken sind die Kleinwinkelstreuung und die Neutronen-Reflektometrie. Bei beiden Verfahren lenkt man den Neutronenstrahl auf eine Probe und untersucht dann die Neutronen, die in einem flachen Winkel von der Probe abgelenkt werden. Bei der Kleinwinkelstreuung arbeitet man üblicherweise nicht mit einem Kristall, sondern mit einer Lösung, in der sich die Virenproteine befinden. Das hat den Vorteil, dass wir die Proteine in einer Umgebung untersuchen können, die eher ihrer natürlichen entspricht und sich die Proteine wie in einer Zelle oder in der Blutbahn verhalten. Bei der Reflektometrie hingegen untersucht man dünne Schichten. Das kann beispielsweise eine Lipid-Doppellage sein, wie sie in einer menschlichen Zellmembran vorliegt. Durch den streifenden Einfallswinkel der Neutronen können wir damit genau untersuchen, wie ein Virus hier andocken könnte.
Mit Neutronen lassen sich auch zelluläre Prozesse untersuchen. Wie ist das möglich?
Dafür eignet sich die Neutronen-Spektroskopie. Hierbei untersuchen wir, wie sich die funktionellen Gruppen von Proteinen verhalten. Denn diese Gruppen von Atomen bestimmen maßgeblich die Eigenschaften der Proteine. Die Neutronen schubsen sozusagen die Atome in den funktionellen Gruppen an und übertragen dabei Energie auf diese Molekülkomplexe. Dadurch kommt es zu Vibrationen und Rotationen in den funktionellen Gruppen. Wenn wir die spektroskopischen Messergebnisse am Computer analysieren, können wir sehr gut die Zeitskala bestimmen, auf der solche Prozesse stattfinden. Damit erhalten wir ein gutes Bild davon, wie sich die verschiedenen Atome in solchen Molekülkomplexen bewegen, und können die biochemischen Reaktionen besser verstehen.
Wie unterscheidet sich die Strukturanalyse mit Neutronen von anderen Methoden?
Im Vergleich mit der Röntgenkristallografie – bei der ein Kristall aus gleichförmig angeordneten Virenproteinen untersucht wird – dauern die Versuche mit Neutronen deutlich länger. Das liegt daran, dass moderne Röntgenquellen extrem starke und scharf fokussierte Strahlen produzieren, was entsprechend kurze Messzeiten und die Untersuchung kleinster Probenmengen ermöglicht. Mit Neutronen stehen uns keine vergleichbar intensiven Strahlen zur Verfügung. Dafür erhalten wir mit Neutronen ein komplementäres, für biologische Fragestellungen oft entscheidend detailreicheres Bild. Denn Röntgenstrahlen sind weitgehend blind für Wasserstoffatome. Dabei spielt gerade bei organischen Stoffen der Wasserstoff eine wichtige Rolle – etwa bei Wasserstoffbrückenbindungen.
Ergänzen sich die verschiedenen Ansätze?
Die verschiedenen Techniken ergänzen sich sehr gut. So können wir uns zunächst mit Röntgenstrahlen eine Gesamtübersicht über ein Protein verschaffen. Danach untersuchen wir dann mit Neutronenstrahlen die chemische Struktur, wobei vor allem die Kontaktstellen an der Oberfläche von Interesse sind. Beim Coronavirus ist das zum Beispiel das Spike-Protein, mit dem das Virus an den Rezeptor einer menschlichen Zelle koppelt. Hier sind die Wasserstoffatome – die man nur mit Neutronen sehen kann – entscheidend.
Sind schon Experimente zur Analyse des Coronavirus am FRM II geplant?
Im Augenblick ist der FRM II planmäßig außer Betrieb. Wir arbeiten hier in 60-Tages-Zyklen mit entsprechenden Wartungspausen dazwischen. Vermutlich wird der nächste Zyklus – aufgrund der Reise- und Kontaktbeschränkungen für unsere internationalen Nutzer – im Juni oder Juli beginnen. Aber dann werden Corona-relevante Experimente bevorzugt Messzeit erhalten.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/leben/neutronen-als-sonde/