„Der Unterschied ist die Größenordnung“

Sophia Kolbe

Eine abstrakte Darstellung eines menschlichen Gehirns, im Hintergrund befinden sich Wellen.

image_jungle/iStock

Sowohl in der Seismologie als auch in der Medizin untersuchen Forscher die Ausbreitung von Wellen in unterschiedlichen Materialien. Während Seismologen mithilfe von Erdbebenwellen tiefe Einblicke in den Aufbau unseres Planeten gewinnen, nutzen Mediziner stattdessen etwa Ultraschallwellen, um den menschlichen Körper zu untersuchen. Christian Böhm von der ETH Zürich und seine Kollegen arbeiten nun daran, die neusten Verfahren aus der Seismologie auf medizinische Bildgebungsverfahren zu übertragen. Wie damit sogar ein Blick ins menschliche Gehirn ermöglicht wird, berichtet der Geophysiker im Interview mit Welt der Physik.

Welt der Physik: Was passiert bei einem Erdbeben?

Porträt des Forschers Christian Böhm

Christian Böhm

Christian Böhm: Die von einem Erdbeben freigesetzte Energie breitet sich in Form von seismischen Wellen über tausende Kilometer durch das Erdinnere aus. Je nachdem welches Material die Wellen durchlaufen, haben sie unterschiedliche Ausbreitungsgeschwindigkeiten. Treffen sie auf ein neues Material, ändern sie ihre Geschwindigkeit und werden außerdem an der Grenzfläche gestreut und reflektiert – ähnlich wie Lichtstrahlen an einer Glasscheibe. An der Erdoberfläche können wir die Wellen dann mit feinen Instrumenten messen. In der Seismologie nutzen wir dann beispielsweise diese Daten, um das Innere unseres Planeten zu erforschen.

Wie funktioniert das genau?

In den Anfängen der Seismologie wurden die Ankunftszeiten von Erdbebenwellen mit Messgeräten an verschiedenen Orten erfasst. Vergleicht man die unterschiedlichen Zeiten, lässt sich erkennen, ob die Wellen verschiedene Materialien durchlaufen haben. So haben Geologen die Zusammensetzung des Erdinneren analysiert und beispielsweise festgestellt, dass die Erde aus einem Kern und einem Mantel aufgebaut ist. Mittlerweile können wir mit modernen Berechnungsmethoden auch noch andere Welleneigenschaften wie etwa die Amplitude und die Wellenform in unsere Auswertung einbeziehen. Beim Durchqueren des Erdinneren werden diese, genau wie die Laufzeit, abhängig vom Material beeinflusst. So ist die Wellenlänge beispielsweise kürzer, wenn die Welle ein wärmeres Medium passiert. Indem wir das gesamte, gemessene Signal der Erdbebenwelle analysieren, können wir den Aufbau der Erde noch genauer bestimmen.

Sie versuchen gemeinsam mit Ihren Kollegen, Methoden aus der Seismologie auf medizinische Verfahren zu übertragen. Wie ist das möglich?

Es gibt zahlreiche Parallelen zwischen der medizinischen und der geophysikalischen Bildgebung. Die Ultraschalluntersuchungen, wie sie in der Medizin angewandt werden, basieren allerdings auf der Ausbreitung von Schallwellen im menschlichen Körper. Ein Ultraschallgerät sendet dafür die Wellen aus, die dann von den verschiedenen Gewebestrukturen im Körper unterschiedlich stark gestreut und reflektiert werden – ähnlich wie seismische Wellen in der Erde. Die zurückgeworfenen Wellen werden wieder gemessen, sodass sich aus diesen Daten hochauflösende Bilder des Körperinneren erstellen lassen. Der Unterschied zu seismologischen Untersuchungen liegt vor allem in der Größenordnung: Statt über Distanzen von mehreren tausend Kilometern, breiten sich die Ultraschallwellen im Körper nur über wenige Zentimeter aus.

Welche Eigenschaften der Ultraschallwellen nutzt man, um ein Bild zu erstellen?

Für die Untersuchung von Weichteilen wie etwa Bindegewebe oder Muskeln reichen Informationen über die Ankunftszeit der zurückgeworfenen Ultraschallwellen aus. Schwieriger wird es, wenn man Regionen mit Knochen abbilden möchte. Denn an den Knochen werden die Wellen so stark gestreut und abgedämpft, dass sie die Messgeräte nicht wieder erreichen. Somit lässt sich aus den gemessenen Signalen kein Bild von Knochen oder den dahinterliegenden Bereichen rekonstruieren. Daher forsche ich mit Patrick Marty und unserer Arbeitsgruppe an einer neuen Methode, mit der sich etwa das Gehirn untersuchen lässt, obwohl es von einem knöchernen Schädel umgeben ist, der die Ultraschallwellen eigentlich abschirmt.

Wie funktioniert das?

Wir arbeiten mit deutlich niedrigeren Frequenzen als konventionelle Ultraschallgeräte. Statt Ultraschallwellen im Megahertz-Bereich, verwenden wir Frequenzen von einigen hundert Kilohertz. Die Streuung und Absorption der Wellen am Gewebe ist maßgeblich abhängig von der Frequenz und bestimmt damit auch die Eindringtiefe der Wellen in das untersuchte Gewebe. So gelangen die Wellen mit niedrigen Frequenzen gut durch die dicke Schädeldecke, passieren das Gehirn und treten auf der anderen Seite wieder aus. Dort zeichnen wir die ankommenden Ultraschallwellen auf und analysieren ihre Eigenschaften. Dafür verwenden wir die Berechnungsmethoden aus der seismologischen Forschung, in die nicht nur die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Ultraschallwellen einfließt, sondern auch weitere Eigenschaften wie etwa die Wellenform und Amplitude. So können wir ein detailreiches, dreidimensionales Bild vom Inneren des Gehirns rekonstruieren.

Wenn Sie Videos von YouTube anschauen, werden Daten an YouTube in die USA übermittelt.

Weitere Informationen erhalten Sie auf unserer Datenschutzseite.


Um das Gehirn zu untersuchen, gibt es bereits etablierte Methoden wie etwa die Computertomographie oder die Magnetresonanztomographie. Welche Vorteile versprechen Sie sich von dem neuen Verfahren?

Bei der Untersuchung mit Ultraschall gibt es keine Strahlenbelastung wie etwa bei der Computertomographie, bei der man Röntgenstrahlen nutzt. Damit ließe sich mit der neuen Methode eine Untersuchung auch nach kurzen Zeitabständen wiederholen und sie wäre etwa für die Untersuchung von Säuglingen ein Gewinn. Denn auch mit der Magnetresonanztomographie können Säuglinge nur begrenzt untersucht werden, da die Patienten während der gesamten Untersuchung still liegen müssen. Zudem lassen sich mit der neuen Methode dreidimensionale Bilder erstellen, welche auch Aufschluss über die Dichte und Elastizität verschiedener Gehirnbereiche geben. So lässt sich mit dem neuen Bildgebungsverfahren viel genauer bestimmen, um welche Art von Gewebe es sich handelt – sogar ohne zusätzlich Gewebeproben zu nehmen.

Wie weit sind Sie mit Ihrer Forschung?

Es wird bereits an ersten Prototypen gearbeitet: Dabei trägt der Patient eine Art Helm, auf dem mehrere Ultraschallköpfe angebracht sind. Nacheinander gibt jeweils ein Ultraschallkopf ein Signal ab, das dann das Gehirn durchquert und anschließend von den anderen Köpfen aufgezeichnet wird. Nach der etwa zwanzigminütigen Untersuchung können wir mit unserer Software ein dreidimensionales Bild des Gehirns erstellen. Doch das Berechnen der Bilder dauert zurzeit noch sehr lange. Daher halte ich eine zeitnahe Anwendung in Arztpraxen momentan für unrealistisch. Unsere Arbeit ist vielmehr Grundlagenforschung für eine vielversprechende Methode.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/leben/ultraschall-der-unterschied-ist-die-groessenordnung/