Mit Neutronen zu neuen Materialien

Wiebke Rögener-Schwarz

Zwei Pinsel mit blauer Farbe in Gläsern mit Pinselreinigern

Am Forschungszentrum Jülich nutzen Wissenschaftler unterschiedliche Experimente mit Neutronen, um den Eigenschaften von Stoffen auf den Grund zu gehen. Mit ihrer Grundlagenforschung bringen sie die Entwicklung neuer Materialien für Industrie und Alltag voran, wie zum Beispiel selbstheilendes Gummi, umweltverträgliche Pinselreiniger oder supraleitende Spulen für Magnetresonanztomographen.

Ein Kratzer im Lack des neuen Autos ist höchst ärgerlich. Auch Verschleißteile an Maschinen kosten unnötiges Material und viel Energie. Ideal wäre es, wenn sich Risse und Kratzer von selbst wieder verschlössen, genau so, wie bei Lebewesen eine Schramme oder ein Knochenbruch heilt. Erste Produkte mit Selbstheilungskräften gibt es schon: „unplattbare“ Fahrradreifen etwa, bei denen sich ein Loch mit einer viskosen Substanz verschließt. „Doch das funktioniert an einer Stelle nur genau einmal“, sagt der Chemiker Wim Pyckhout-Hintzen. Er entwickelt mit seinen Kollegen am Jülich Centre for Neutron Science (JCNS) des Forschungszentrums Jülich Materialien, die uneingeschränkt immer wieder neu zusammenwachsen können. „Sie bilden ein Netzwerk. Wenn es zerreißt, kann es sich immer wieder neu knüpfen“, erläutert Pyckhout-Hintzen. Die Stoffe bestehen aus Polymerbausteinen, das sind kettenförmige Moleküle. Sie haften über sogenannte Wasserstoffbrücken lose aneinander und diese Bindungen können sich trennen und neu zusammenfügen.

Die Kammer ist kreisrund und in den Boden eingelassen. In der Mitte führt ein Schacht mit einer Leiter viele Meter nach unten.

Spallationsquelle SNS in Oak Ridge

Dem Verschleiß entgegenwirken sollen auch Teilchen im Nanomaßstab – also in der Größenordnung von einigen millionstel Millimetern. In elastischen Materialien verteilt, im Gummi von Auto- oder Fahrradreifen beispielsweise, verleihen sie Stabilität und vermindern den Abrieb. Das Prinzip ist nicht neu. Die bisher verwendeten Partikel, etwa aus Siliziumdioxid oder Ruß, waren allerdings relativ grob. Mit feinen Nanopartikeln lassen sich dagegen viel größere Wirkungen erzielen und die Vorteile von harten und weichen Materialien kombinieren. Denn ihre Oberfläche und damit die Wechselwirkung mit dem Gummi ist bei gleicher Masse bedeutend größer.

„Einzigartig ist bei uns der mikroskopische Zugriff auf solche Materialien mittels Neutronenstreuexperimenten. Nur so lassen sich beispielsweise Selbstheilungsmechanismen auf der Ebene der Moleküle verstehen“, erklärt Andreas Wischnewski, Physiker am JCNS. Das Forschungszentrum Jülich betreibt modernste Instrumente an Neutronenquellen in aller Welt, so am Reaktor FRM II in Garching bei München, am Institut Laue-Langevin im französischen Grenoble und an der Spallationsquelle SNS in Oak Ridge, USA – Europas einziger direkter Zugang zur aktuell stärksten gepulsten Neutronenquelle der Welt.

Mit Neutronen die Struktur und Bewegung von Molekülen untersuchen

Für die Materialforscher sind Neutronen, die zusammen mit den Protonen die Bausteine der Atomkerne darstellen, als Sonden ideal. Anders als die elektrisch geladenen Protonen oder Elektronen sind Neutronen elektrisch neutral. Elektrische Wechselwirkungen, etwa durch die Elektronenhülle der Moleküle, können sie nicht beeinflussen. Deshalb dringen Neutronen relativ ungestört bis zum „inneren Gerüst“, den Atomkernen, durch. In sogenannten Kleinwinkelstreuinstrumenten verhalten sich Neutronen wie eine Welle, also wie Licht – allerdings mit einer wesentlich kürzeren Wellenlänge. Deswegen kann man mit ihnen Strukturen wie in einem extrem hochauflösenden Mikroskop analysieren.

Metallröhre mit Experimentierstationen

Neutronen-Spin-Echo-Spektrometer

Andere Instrumente, wie Neutronen-Spin-Echo-Spektrometer und Rückstreu-Spektrometer, zeigen die Dynamik in den untersuchten Materialien, etwa deren Elastizität oder die Bewegungen der Moleküle in viskosen Substanzen. Neutronen verhalten sich in diesem Fall wie Teilchen: In Stoßprozessen nehmen sie Bewegungsenergie auf oder geben sie ab. Daraus können die Forscher auf die Geschwindigkeiten der Atome schließen.

Darüber hinaus lassen sich mit Neutronen einzelne Moleküle in einem Gemisch sichtbar machen. Indem man die Wasserstoffatome der Moleküle gegen schweren Wasserstoff – Deuterium – austauscht, werden sie „angefärbt“, denn die Neutronen interagieren stark unterschiedlich mit beiden Formen des Wasserstoffs.

Streuexperimente für die Entwicklung umweltfreundlicher Polymere

Einer, der sich diese Möglichkeit zunutze macht, ist Chemiker Jörg Stellbrink. Er erforscht komplexe Flüssigkeiten, also Gemische aus verschiedenen Polymeren, sowie Kolloide – das sind fein verteilte Partikel oder Tröpfchen in einer Flüssigkeit. Wie solche Gemenge sich verhalten, ist wegen unzähliger Wechselwirkungen auf molekularer Ebene schwer zu analysieren, aber von großer Bedeutung. Zu den Kolloiden zählen so alltägliche Flüssigkeiten wie Dispersionsfarben, Schmelzen in der Kunststoffproduktion sowie das Blut in unseren Adern. In Neutronenstreuexperimenten konnte Stellbrinks Team Belege für eine Theorie finden, nach der sich die Wechselwirkungen auf Kräfte zwischen den Schwerpunkten der jeweiligen Moleküle reduzieren. Mit dieser Theorie können dann Materialeigenschaften sehr viel einfacher vorhergesagt werden. Aufgestellt hatten sie Forscher der Universität Wien, mit denen die Gruppe aus Jülich kooperiert.

Gezeigt sind zwei gelbe Dreiecke, an deren Spitze jeweils ein roter Pfeil sitzt. Im linken Bild zeigen die Pfeile entweder nach oben oder nach unten, im rechten Bild zeigen sie alle nach außen.

Magnetische Momente in Eisenatomen

Mit Neutronenstreuexperimenten am Institut Laue-Langevin konnten die Wissenschaftler Folgendes zeigen: Einzelne mit Deuterium markierte Polymermoleküle verhalten sich in der komplexen Mischung tatsächlich so, wie die Theorie es vorausgesagt hatte. Das Forschungsgebiet erstreckt sich auch auf den Alltag. So haben Chemiker des Forschungszentrums Jülich gemeinsam mit einem mittelständischen Unternehmen einen umweltfreundlichen Pinselreiniger entwickelt. Wesentlicher Bestandteil ist ein zugesetztes Polymer. Es besitzt ein wasser- und ein fettliebendes Ende, wie herkömmliche waschaktive Substanzen auch, nur ist das Molekül bis zu hundertmal länger. Der Clou: Wenn man es mit Tensiden mischt, verstärken diese dessen Wirkung. So lässt sich eine stabile Mischung aus Wasser, pflanzlichen Ölen und dem Additiv herstellen, die Farb- oder Klebstoffreste genauso gut löst wie herkömmliche Pinselreiniger, jedoch ohne gesundheitsschädliche Lösungsmittel.

Künftige Potenziale für Datenspeicher und Supraleiter

Neutronen haben noch eine weitere wichtige Eigenschaft: Sie besitzen ein magnetisches Moment, den Spin. Daher „spüren“ sie die atomare Anordnung der elementaren Magnete in einem Material und eignen sich ideal zur Erforschung des Magnetismus. Zhendong Fu hat am JCNS Magnete untersucht, die aus einem einzigen kugelförmigen Riesenmolekül bestehen, einem sogenannten Polyoximetalat. Es besitzt dreißig magnetische Eisenatome, die in Fünferringen und Dreiecken angeordnet sind. Die Spins benachbarter Eisenatome richten sich eigentlich stets antiparallel – also entgegengesetzt – aus. Doch das ist aus geometrischen Gründen nicht möglich. „Solche ‚frustrierten‘ Ordnungen sind vor allem für die Grundlagenforschung hochinteressant“, sagt Fu. Die molekularen Magnete ließen sich aber auch gut im Hinblick auf künftige Anwendungen anpassen: Sie sind gleich groß und lassen sich chemisch variieren. Mögliche Einsatzgebiete sind zukünftige Datenspeicher mit enormer Dichte und Bauteile von Quantencomputern.

Auf dem Bild stehen zwei Pinsel mit blauer Farbe jeweils in einem Becherglas, das mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt ist. In der Flüssigkeit im rechten Glas löst sich die blaue Farbe besser vom Pinsel als links.

Pinselreiniger im Vergleich

Der Spin der Neutronen könnte außerdem Aufschluss über das Phänomen der Supraleitung geben, das Wissenschaftler schon seit hundert Jahren fasziniert. Damals entdeckte der niederländische Physiker Heike Kamerlingh Onnes, dass Quecksilber unterhalb von rund minus 269 Grad Celsius verlustfrei Strom leitet. Seither wurden etliche supraleitende Materialien gefunden, darunter auch die Hochtemperatursupraleiter – ursprünglich ausschließlich Kupferoxidverbindungen. Diese zeigen schon bei Temperaturen von deutlich über minus 200 Grad Celsius supraleitende Eigenschaften, aus Gründen, die bis heute nicht verstanden sind. Diese Materialien lassen sich relativ günstig mit flüssigem Stickstoff kühlen, doch Stromkabel ohne Widerstand bei Raumtemperatur blieben bisher eine Vision.

Neutronenforscher in Jülich untersuchen eine neuartige Klasse von Hochtemperatursupraleitern, deren Grundstruktur aus Eisen und Arsen besteht. Die Eisenverbindungen verlieren ihren Widerstand bei rund minus 220 Grad. Auch ihre supraleitenden Eigenschaften lassen sich nicht mit herkömmlichen theoretischen Modellen erklären. Viele Fachleute gehen aber davon aus, dass dieses rätselhafte Verhalten auf „fluktuierenden Spins“ beruht, also darauf, dass die Spins ihre Orientierung ändern. Diese Form der Supraleitung hängt demnach mit der magnetischen Ordnung zusammen. Die Experimente mit Neutronen liefern wesentliche Informationen, die dazu beitragen, dieses physikalische Phänomen zu erklären. Die Forscher untersuchen beispielsweise, wie sich die magnetische Struktur der Supraleiter mit der Temperatur ändert. Im Gegensatz zu vielen anderen Hochtemperatursupraleitern sind eisenbasierte Supraleiter metallisch und lassen sich vergleichsweise gut zu Drähten verarbeiten. Wenn es gelingt, die Übergangstemperatur zur Supraleitung um weitere dreißig Grad zu erhöhen, könnte dieses Material für Stromkabel infrage kommen. Eine mögliche Anwendung in den kommenden Jahren wären supraleitende Spulen für Magnetresonanztomographen.

 

Weitere Anwendungen für Neutronen

Neben der Materialforschung werden Neutronen in vielen anderen Bereichen eingesetzt:

  • Strukturanalyse von Biomolekülen
  • Bestrahlung von Tumoren
  • Nachweis von Umweltschadstoffen
  • zerstörungsfreie Werkstoffprüfung
  • Produktion von Radionukliden für Medizin und Forschung

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/materie/analyse-von-materialien/neutronen-als-sonde/mit-neutronen-zu-neuen-materialien/