Neutronenautoradiographie in der Kunst
Die Bewahrung des kulturellen Erbes hat in den letzten Jahren einen zunehmenden Stellenwert in Politik und Gesellschaft erfahren, vielleicht als Reaktion auf das weit verbreitete Gefühl, in einer Welt zu leben, die sich rapide wandelt.
Kunstschätze in ihrem gegenwärtigen Zustand mit wissenschaftlichen Mitteln zu erfassen, ihre Geschichte zu erforschen, Wege zur Restaurierung und Bewahrung aufzuzeigen, all dies wird von Institutionen wie der UNESCO oder der europäischen Kommission immer stärker als wichtige gesellschaftliche Aufgabe angesehen, zu der auch Forschungseinrichtungen ihren Beitrag leisten sollen.
Neutronenautoradiographie
Neutronen tragen in mannigfacher Weise zu Bemühungen um die Bewahrung des kulturellen Erbes bei. Ein Beispiel ist die Anwendung der Neutronenautoradiographie zur Untersuchung von Gemälden. Man bestrahlt Gemälde mit Neutronen, wobei durch Kernreaktionen einige Atome in den Bildmaterialien, insbesondere in den Farbpigmenten, radioaktiv werden (im Durchschnitt nur etwa vier von 1012 Atomen). Nach Ende der Bestrahlung wird der Zerfall der radioaktiven Kerne über die dabei ausgesandte α- und β-Strahlung registriert. Die räumliche Verteilung der radioaktiven Kerne wird über die Schwärzung eines empfindlichen Filmes nachgewiesen, der nach der Neutronenbestrahlung auf das Gemälde aufgelegt wird. Die radioaktiven Kerne unterscheiden sich durch ihre verschiedenen Zerfallszeiten. Durch Auflegen jeweils neuer Filme nach bestimmten Zeitabständen können so radioaktive Kerne unterschiedlicher Lebensdauer und damit korreliert unterschiedliche Farbpigmente bevorzugt sichtbar gemacht werden. Durch Einsatz von α-empfindlichen Detektoren lässt sich zudem die chemische Zusammensetzung einzelner Farbpigmente ähnlich wie bei der Neutronenaktivierungsanalyse bestimmen.
Original oder Fälschung?
Ein erhellendes Beispiel dafür, wie die Neutronenautoradiographie benutzt werden kann, um die Zuordnung eines Gemäldes zu einem bestimmten Maler zu klären, ist in den Abb. 1 und 2 dargestellt. Abb. 1 zeigt ein Bild aus der Berliner Gemäldegalerie. Es trägt die Bezeichnung „Armida entführt den eingeschläferten Rinaldo“ und wurde bisher als Werk eines Kopisten des französischen Malers Nicolas Poussin (1594–1665) angesehen. Ein Original Poussins mit ganz ähnlichem Sujet hängt in der Londoner Dulwich Picture Gallery (“Armida und Rinaldo“). Abb. 2 zeigt nun eine Autoradiographie des Berliner Bildes (vergl. Abb. 1), auf der zur Überraschung der Kunsthistoriker zusätzliche Bäume zu erkennen sind (in Abb. 2 braun hervorgehoben), die offenbar wieder übermalt worden waren. Bei einer röntgenographischen Untersuchung des Bildes waren diese Bäume nicht zu sehen. Diese zusätzlichen Bäume enthalten dieselben Farbpigmente wie die anderen Bildelemente und passen auch in die Gesamtkomposition des Bildes. Daraus kann man nur den Schluss ziehen, dass der Maler sein Konzept während der Ausführung des Gemäldes änderte, um zu einer anderen künstlerischen Aussage zu kommen. Werden solche Übermalungen, Pentimenti genannt, entdeckt, so gilt das bei Kunsthistorikern immer als gewichtiger Hinweis darauf, dass es sich bei dem Bild um ein Original handelt. Für einen Kopisten ist eine Konzeptänderung während der Bildausführung sehr unwahrscheinlich. Kunsthistoriker gehen deshalb jetzt davon aus, dass das Gemälde „Armida entführt den eingeschläferten Rinaldo“ von Nicolas Poussin selbst gemalt wurde.
Forschung mit Neutronen in Deutschland: Status und Perspektiven (Oktober 2005)
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/materie/analyse-von-materialien/neutronen-als-sonde/neutronenautoradiographie/