„Ein exotischer Materiezustand“
In unserem Alltag begegnet uns Materie in drei verschiedenen Aggregatzuständen – fest, flüssig und gasförmig. Laut den Gesetzen der Quantenphysik sind allerdings auch exotischere Zustände möglich. Einer davon – ein Suprafestkörper – wurde bereits vor über 50 Jahren theoretisch vorhergesagt. Seither versuchen Wissenschaftler, diesen Materiezustand zu erzeugen. Nun haben Forscher zum ersten Mal zweifelsfrei einen Suprafestkörper im Labor nachgewiesen. Wie das gelang, erzählt Tilman Pfau von der Universität Stuttgart im Interview mit Welt der Physik.
Welt der Physik: Was ist ein Suprafestkörper?
Tilman Pfau: Ein Suprafestkörper ist ein Körper, der gleichzeitig flüssig und fest ist. Das widerspricht unserer Alltagserfahrung, ist aber laut den Gesetzen der Quantenphysik möglich. Auch in der klassischen Physik gibt es Mischungen aus verschiedenen Materiezuständen. Teilweise geschmolzenes Eis hat beispielsweise einen festen und einen flüssigen Anteil. Doch anders als in solchen klassischen Mischungen – in denen die zwei Zustände nebeneinander existieren – überlagern sie sich im Suprafestkörper auf quantenmechanische Art und Weise.
Wie kann man sich diese Überlagerung vorstellen?
Festkörper und Flüssigkeit unterscheiden sich im Verhalten ihrer Bestandteile – also der Atome oder Moleküle. Während die Bestandteile eines Festkörpers regelmäßig – in einer sogenannten Kristallstruktur – angeordnet sind, bewegen sie sich in einer Flüssigkeit ohne feste Struktur. In einem Suprafestkörper sind die einzelnen Teilchen sowohl Bestandteil der Kristallstruktur eines Festkörpers als auch der freien Bewegung einer Flüssigkeit. Außerdem ist der flüssige Anteil des Suprafestkörpers suprafluid. Das bedeutet, dass sich die Atome oder Moleküle – aufgrund der Quantenphysik – reibungsfrei bewegen.
Sind Suprafestkörper in der Natur zu finden?
In der Natur ließ sich solch ein überlagerter Zustand aus Supraflüssigkeit und Festkörper noch nicht finden. Seit der theoretischen Vorhersage vor über 50 Jahren gab es immer wieder Versuche, den exotischen Materiezustand im Labor herzustellen – zunächst aber ohne Erfolg. Denn die Schwierigkeit besteht darin, die Kräfte in einem Körper so zu kontrollieren, dass sich ein fester und ein flüssiger Zustand gleichzeitig ausbilden. Doch uns ist das nun gelungen.
Wie war das möglich?
Ein Suprafluid stellt man beispielsweise mit Heliumatomen her, die bis knapp über den Temperaturnullpunkt heruntergekühlt werden. Um allerdings eine Überlagerung aus einem suprafluiden und festen Zustand zu erzeugen, sind Atome mit besonderen Eigenschaften nötig. Wir haben Dysprosium-Atome verwendet, die sich wie Stabmagnete – abhängig von ihrer Position zueinander – entweder gegenseitig abstoßen oder anziehen. Durch diese richtungsabhängige Kraft bilden sich beim Abkühlen gleichzeitig ein Suprafluid und eine geordnete Festkörperstruktur.
Und wie wissen Sie, dass es sich tatsächlich um einen Suprafestkörper handelt?
Der Nachweis eines Suprafestkörpers ist dreigeteilt: Als Erstes haben wir uns den erzeugten Materiezustand unter einem Mikroskop angeschaut. So haben wir überprüft, ob sich wirklich eine periodische Kristallstruktur ausgebildet hat. Anschließend mussten wir sichergehen, dass unser System kein klassisches Gemisch aus Zuständen ist, sondern quantenmechanische Eigenschaften besitzt. Mithilfe von Interferenzexperimenten haben wir gezeigt, dass sich alle Atome des Systems durch einen gemeinsamen quantenmechanischen Zustand beschreiben lassen. Der finale Schritt, der zum zweifelsfreien Nachweis eines Suprafestkörpers bislang fehlte, war der Nachweis von Schallwellen im Suprafestkörper.
Wie lässt sich mit Schall ein Suprafestkörper nachweisen?
Stößt man einen Körper an, schwingen seine Bestandteile auf eine bestimmte Art und Weise – abhängig vom inneren Aufbau des Körpers. Diese Schwingung breitet sich dann in Form von unterschiedlich schnellen Schallwellen aus. Als wir unseren Suprafestkörper zum Schwingen anregten, haben wir eine ganz spezielle Schwingungsmode entdeckt. Eine dieser sogenannten Goldstone-Moden entsteht, wenn eine Kristallstruktur und eine Flüssigkeit entgegengesetzt schwingen. Durch den Nachweis dieser sehr langsam schwingenden Schallwelle konnten wir zum ersten Mal zweifelsfrei nachweisen, dass in unserem System tatsächlich sowohl ein suprafluider als auch ein fester Zustand in einer Überlagerung existieren.
Welche Anwendungen bietet dieser Materiezustand?
Mit unserem Experiment betreiben wir vor allem Grundlagenforschung. Wir wollten nachweisen, dass Suprafestkörper nicht nur theoretisch existieren, sondern dass sie sich auch im Labor herstellen lassen. Damit haben wir die Möglichkeit, viele bisher unbekannte Eigenschaften von Suprafestkörpern zu erforschen. Außerdem ist auch die Entdeckung weiterer Materiezustände denkbar. Ob sich daraus irgendwann konkrete Anwendungen ergeben werden, steht allerdings noch in den Sternen.
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Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/materie/ein-exotischer-materiezustand/