Eigenschaften und Analyse von Gläsern
Walter Schirmacher
Glas begegnet uns jeden Tag in den verschiedensten Formen – vom Fenster über Schmuck bis hin zu schnellen Internetleitungen. Und obwohl das durchsichtige Material schon seit vielen Jahrhunderten zum Einsatz kommt, steht es noch immer im Fokus physikalischer Forschung.
Glasmaterialien werden heutzutage längst nicht nur für Fenster, Trinkgefäße oder Brillen verwendet, sondern spielen besonders in der modernen Kommunikationstechnik eine wichtige Rolle. In Glasfaserkabeln dienen Lichtstrahlen als Informationsträger und übertragen im Vergleich zu konventionellen Kupferkabeln ein Vielfaches an Informationen. Das hängt damit zusammen, dass Licht – als elektromagnetische Strahlung betrachtet – eine viel höhere Frequenz besitzt als die in der konventionellen Radiokommunikation übliche Strahlung: Statt im Bereich von Gigahertz, also Milliarden Schwingungen pro Sekunde, schwingt Licht mit mehreren hundert Terahertz, wobei ein Terahertz tausend Milliarden Schwingungen pro Sekunde bedeutet. Durch gezielte Modifikation von Glasmaterialien lassen sich heutzutage außerdem funktionelle Komponenten für Lichtstrahlen oder verbesserte Antennenmaterialien für Handys herstellen.
Das wohl augenfälligste Merkmal von Glas ist seine Durchsichtigkeit. Dabei unterscheidet sich das Lichtbrechungsvermögen allerdings von dem der Luft, was man unter anderem für die Brillenoptik oder beim Bau von optischen Instrumenten wie beispielsweise Fernrohren und Mikroskopen nutzt. Darüber hinaus verfügt Glas über ein geringes Wärmeleit- und -speichervermögen, was wichtig für die Wärmeisolierung von Wohnräumen ist, sowie ein geringes elektrisches Leitvermögen – eine Eigenschaft, die Glas mit allen anderen nichtmetallischen Werkstoffen teilt.
Der Hauptbestandteil von Glas ist geschmolzener und wiedererstarrter Quarzsand mit der chemischen Zusammensetzung Siliziumdioxid, SiO2. Im Mittel kommen also zwei Sauerstoffatome auf ein Siliziumatom. Neben diesen chemischen Elementen befinden sich noch sogenannte Glas bildende Bestandteile wie Natrium- oder Kaliumionen im Glas. Die Beigabe der zugehörigen Natrium- und Kaliumsalze erniedrigt den Schmelzpunkt bei der Herstellung.
Amorph oder kristallin
Atome und Moleküle können sich auf zwei fundamental unterschiedliche Arten anordnen: in einer kristallinen oder in einer nichtkristallinen, amorphen Anordnung (siehe Videos auf dieser Seite). Bei der kristallinen Anordnung sitzt jedes Atom oder Molekül auf einem durch eine einfache geometrische Regel festgelegten Platz, wobei gleichartige Atome und Moleküle regelmäßig wiederkehren – dadurch entsteht das regelmäßige Kristallgitter. Die Mehrheit der Mineralien in der Erdkruste liegt in kristalliner Form vor. Für die meisten im Alltag verwendeten Materialien gilt das allerdings nicht. Weder Holz noch Glas noch Kunststoffe sind kristallin. Nur metallische Werkstoffe liegen mehrheitlich in kristalliner Form vor.
Im Fall von SiO2 erzwingt die Art der chemischen Bindung, dass sich die Atome in einem ganz bestimmten Muster anordnen: Die Sauerstoffatome bilden Tetraeder und die Siliziumatome befinden sich jeweils in der Mitte dieser Tetraeder. Je nachdem, ob sich diese Tetraederstruktur konsequent periodisch fortsetzt oder nicht, handelt es sich um einen Kristall oder um eine amorphe Glasstruktur. Im Silikatglas bleibt zwar lokal die Tetraederstruktur bewahrt, doch bildet sich kein großräumiger Kristall. Man spricht von einem tetraedrisch geformten amorphen Netzwerk.
Eine wichtige Methode, um ein Material wie Glas zu untersuchen, bieten Röntgenstrahlen. Anhand von Röntgenaufnahmen – der Röntgenbeugung nach dem von-Laue-Verfahren – kann man sehr leicht zwischen Materialien mit kristalliner und amorpher Struktur unterscheiden. Möglich macht das ein von Joseph Fourier (1768–1830) erfundenes mathematisches Verfahren, mit dem aus der Röntgenintensitätsverteilung auf die Anordnung der Atome zurückgeschlossen werden kann. Wenn das Material als Einkristall vorliegt und sich die regelmäßige Ordnung somit über das gesamte Materialstück erstreckt, dann ergeben sich im Röntgenbild regelmäßig angeordnete Punkte, sogenannte Bragg-Reflexionen
Ist das Material zwar kristallin, aber aus vielen kleinen Kristallen mosaikartig zusammengesetzt, spricht man von einem Polykristall. Ein Polykristall ergibt – wie auch ein Pulver aus kristallinem Material – ein Röntgenbild aus konzentrischen Ringen. Ein nichtkristallines Material, wie Fensterglas, erzeugt ebenfalls ein kreissymmetrisches Röntgenbild, aber die hellen Ringe sind viel verwaschener als die eines Polykristalls oder Kristallpulvers.
Mithilfe der Röntgenanalyse lässt sich aber nicht nur zwischen kristallinen oder amorphen Strukturen unterscheiden. Vielmehr kann man anhand der Details der Intensitätsverteilung genauere Informationen über die mikroskopische Zusammensetzung der Materialien erhalten. Diese Informationen sind für die gezielte Entwicklung von technologisch nutzbaren Glasmaterialien von unschätzbarem Wert. Ein Beispiel dafür sind neuartige Antennen für Mobiltelefone aus einem glasartigen Keramikmaterial: Damit die Geräte später einen möglichst guten Empfang aufweisen, optimieren die Forscher die Glaskeramik, indem sie deren Zusammensetzung systematisch verändern. Die daraus resultierende Struktur wird dann mittels Röntgenstrukturanalyse ermittelt und mit der Effizienz der Antenne in Verbindung gebracht.
Glas unter der Röntgenlupe
Für die verfeinerte Strukturanalyse von Gläsern eignen sich vor allem hochintensive Röntgenstrahlen, die in Elektronenspeicherringen – sogenannten Synchrotronen – erzeugt werden. Konventionelle Röntgenstrahlen, wie sie in der Medizin verwendet werden, beruhen auf dem von Conrad Röntgen entwickelten Konzept der Glühkathode. Die im Synchrotron produzierte Strahlung entsteht, wenn Elektronen in einem Speicherring auf mindestens ein Zehntel der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden und anschließend durch räumlich variierende Magnetfelder hindurchfliegen. Hierbei wird intensive Röntgenstrahlung freigesetzt.
Diese schicken Forscher anschließend durch einen Siliziumeinkristall, wodurch sich die Komponenten mit unterschiedlichen Wellenlängen separieren – wie dies bei Licht in einem Prisma geschieht. Mit diesem einfarbigen, also monochromatischen Röntgenlicht lassen sich dann besonders genaue Bragg-Reflexionen erzeugen, da die exakte Lage der Punkte nicht nur durch den Gitterabstand des Materials sondern auch durch die Wellenlänge der Röntgenstrahlung bestimmt wird.
Die Vielfalt an Informationen, die man mithilfe der Strukturanalyse durch Synchrotronstrahlung erhält, geht weit über die der konventionellen Röntgenstrahlung hinaus. Denn durch die hohe Brillanz der Synchrotronstrahlung kann man auch sehr schmale und dadurch intensitätsschwache Reflexe des Siliziumeinkristalls verwenden, was zu einer enorm feinen Auflösung führt. So lässt sich tatsächlich feststellen, wie die atomaren Bestandteile des Glasmaterials räumlich zueinander angeordnet sind.
Diese Ergebnisse lassen sich dann mit theoretischen Berechnungen auf der Grundlage der Quantentheorie vergleichen. Ein Beispiel ist die Anordnung der Sauerstoffatome um ein Siliziumatom im Silikatglas. Im entsprechenden kristallinen Material (Quarz oder Cristobalit) bilden die Sauerstoffatome regelmäßige Tetraeder um das Siliziumatom. Im Glas sind es fast regelmäßige Tetraeder. Materialwissenschaftler sagen, dass die Nahordnung im Glas ähnlich der im Kristall ist. Im Gegensatz zum Kristall gibt es aber keine Fernordnung, die Silizium- und Sauerstoffatome sitzen also nicht auf einem regelmäßigen Gitter.
Unter Neutronenbeschuss
Zur Strukturanalyse eignen sich statt Röntgenstrahlen auch Neutronen, die in Forschungskernreaktoren oder in Spallationsbeschleunigern erzeugt werden. Bei der Kernspaltung im Reaktor fallen immer Neutronen an, die die Kettenreaktion darin aufrechterhalten. Anders als bei Kernkraftwerken wird in Forschungsreaktoren die Reaktion so gestaltet, dass möglichst viele Neutronen bei möglichst geringer Energieerzeugung entstehen, die dann für Forschungszwecke zur Verfügung stehen. Die Teilchen werden mithilfe metallischer Neutronenleiter fokussiert und auf die zu untersuchenden Materialien gelenkt. Man erhält ähnliche Strukturinformationen wie bei der Röntgenstrukturanalyse, doch im Gegensatz zu Röntgenstrahlen treten die Neutronen nicht mit den elektrisch geladenen Elektronen in Wechselwirkung, sondern mit den Atomkernen.
Das ermöglicht auch die Strukturanalyse von Metallen, in die Röntgenstrahlen nicht eindringen können. Weiterhin lassen sich mithilfe der Neutronen, die ein kleines magnetisches Moment besitzen, Informationen über das Vorhandensein magnetischer Atome oder Ionen, wie beispielsweise Eisen, im Glas bestimmen. In Spallationsbeschleunigern wie der geplanten Europäische Spallationsquelle ESS werden Ionen auf sehr hohe Geschwindigkeit beschleunigt. Dann lassen Forscher sie auf ein Stück Materie – das sogenannte Target – aufprallen, sodass eine Kernreaktion stattfindet, bei der unter anderem Neutronen erzeugt werden. Letztere können wie beim Forschungsreaktor zur Materialforschung verwendet werden.
Röntgen- und Neutronenstrahlen leisten aber noch mehr, als nur die Struktur der Materie aufzuklären. Mithilfe inelastischer Röntgen- und Neutronenstreuung lassen sich auch Informationen über die mikroskopische Bewegung der Bausteine von Gläsern gewinnen. Die Analyse solcher Bewegungen, also der Glasdynamik, ist ein großes Forschungsgebiet innerhalb der Glasphysik, das sowohl für die Grundlagenforschung als auch für die Anwendung wichtig ist. Denn die Glasdynamik hängt sehr eng mit dem Fließverhalten des Glases zusammen.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/materie/glaeser/