Endlich die Theorie zur Praxis: Warum Gummi sich dehnt
Messen konnte man sie, berechnen aber nicht: die Kraft, die Gummi ausübt, wenn man es stark dehnt. Dem Elastizitätsgesetz aus den 1940er Jahren folgt Gummi nur bis zu einer bestimmten Dehnung. Jetzt liefern US-Physiker die Erklärung dessen, was über den Dehnungspunkt hinaus im Gummi geschieht.
Boulder (USA)/Urbana-Champaign (USA) - Sie beziehen mit ein, wie die Molekülketten gegeneinander verrutschen. Mit der neuen Ergänzung stimmt die Theorie nun endlich mit dem überein, was aus der Praxis schon längst bekannt ist. Für Reifen- und Gummiband-Hersteller bringt dies keine Veränderung, doch einige Physiker macht es glücklich.
"Dies hat die Physikergemeinde sechzig Jahre lang herausgefordert", erklärt Paul Goldbart, Physiker an der University of Illinois. Gemeinsam mit Leo Radzihovsky von der University of Colorado und Xiangjun Xing von der Syracuse University bewertete er die Molekülstruktur von Gummi neu. Gummi besteht aus langen Molekülsträngen, von denen einzelne Atome in unregelmäßigen Abständen miteinander verbunden sind. Zieht man am Gummi, so verhält es sich bis etwa zur doppelten Dehnung linear, nach der Elastizitätstheorie aus den 1940er Jahren, in dem vor allem das Hookesche Gesetz von 1678 steckt: 20 Prozent stärkere Zugkraft bringt ein um 20 Prozent längeres Gummistück. Gedehntes Gummi ist geordneter als ungedehntes Gummi: Die lang gestreckten Moleküle liegen geordneter vor als die zusammengeknäulten, sie sind im Zustand niedriger Entropie. Die Natur bevorzugt aber grundsätzlich die höhere Entropie, den Zustand höherer Unordnung.
Überschreitet man nun den Dehnungspunkt, so ist der Zusammenhang zwischen Kraft und Strecke nicht länger linear. Goldbergs Team erklärt das im Fachblatt "Physical Review Letters" mit dem bislang vernachlässigten, thermodynamischen Verhalten der Verbindungspunkte zwischen den Gummi-Molekülen. Zudem berechnet es ein, dass Gummi sich nicht komprimieren lässt. Die Moleküle verrutschen gegeneinander, lassen sich aber nicht zusammendrücken. Die bisherige Theorie nimmt an, dass die Verbindungspunkte beim Dehnen des Gummis unbewegt an der gleichen Stelle des Moleküls verbleiben, selbst wenn dieses gedehnt und bewegt wird. Die US-Forscher gehen hingegen davon aus, dass sich die Verbindungsstellen auch verschieben können. Die Entropie des Gummis beruht demnach nicht nur auf den Molekülbewegungen zwischen den Verbindungsstellen, sondern auch auf der Bewegung der Verbindungsstellen selbst. Mithilfe einiger mathematischer Tricks, so das Team, bezog es auch die Nicht-Komprimierbarkeit von Gummi ein.
Die neue Theorie beschreibt nun gut das Verhalten von Gummi, das sich in der Praxis immer schon beobachten ließ. Sie dürfte auf ein breites Spektrum weicher, elastischer Substanzen zutreffen, so Goldbart und Kollegen. Derzeit überprüfen sie ihre Theorie in diversen Experimenten.
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Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/materie/nachrichten/2007/endlich-die-theorie-zur-praxis-warum-gummi-sich-dehnt/