Eisenhaltige Supraleiter
Björn Gojdka
Stellten die bisher bekannten Hochtemperatursupraleiter bereits ein großes Rätsel der Festkörperphysik dar, so wirft eine neue Klasse von eisenhaltigen Supraleitern noch weitere Fragen auf. Doch obwohl diese neuen Supraleiter traditionelle Erklärungsansätze über den Haufen werfen, könnten gerade sie auch einen Schlüssel zum Verständnis der Hochtemperatursupraleitung liefern.
Ob Magnetschwebebahn, Kernspintomograph oder Energiespeicher – ein Supraleiter, der ohne eine aufwändige Flüssiggaskühlung auskäme, würde die heutige Technik revolutionieren. Die Entdeckung eines solchen Materials würde zudem ein über zwanzig Jahre altes Wettrennen der Festkörperphysik beenden. Eine neue Klasse von eisenhaltigen Supraleitern kurbelt das Interesse an dem Forschungsgebiet nun noch weiter an.
Das Rennen um die Sprungtemperatur
Schon seit 1911 sind sogenannte konventionelle Supraleiter bekannt, die unterhalb weniger Kelvin – der materialabhängigen Sprungtemperatur – elektrische Ströme vollständig verlustfrei transportieren. Die quantenmechanische Erklärung für dieses Verhalten wurde 1957 von der sogenannten BCS-Theorie geliefert. Zwar sind die konventionellen Supraleiter durch diese Theorie gut verstanden, technisch ist ihre Anwendung jedoch immer noch aufwändig. Denn um die sehr niedrigen Sprungtemperaturen von weniger als 23 Kelvin (minus 250 Grad Celsius) zu erreichen, ist eine kostenintensive Kühlung mit flüssigem Helium nötig.
Die Physiker Georg Bednorz und Alexander Müller erhielten 1987 nicht nur den Nobelpreis bereits ein Jahr nach der Entdeckung des ersten Hochtemperatursupraleiters. Sie entfachten auch eine Jagd nach neuen Supraleitern mit immer höheren Sprungtemperaturen. Die Temperatur, bei der diese keramischen Supraleiter ihren elektrischen Widerstand verlieren, konnte in den Jahren nach ihrer Entdeckung beständig gesteigert werden. Daher wurden höchste Erwartungen in das zukünftige technische Potential dieser sogenannten Kuprate gesetzt. Ein Meilenstein konnte erreicht werden: Die Entdeckung des Supraleiters YBa2Cu3O7-x (Yttrium-Barium-Kuprat, kurz YBCO) mit einer Sprungtemperatur von minus 180 Grad Celsius ermöglichte erstmals die Kühlung durch flüssigen Stickstoff, der erst bei minus 195 Grad Celsius siedet und wesentlich kostengünstiger als Helium ist. Jedoch liegt der aktuelle Rekordhalter mit einer Sprungtemperatur von minus 135 Grad Celsius immer noch weit unter Raumtemperatur. Zudem sind die keramischen Kuprate spröde und lassen sich daher nur sehr aufwändig verarbeiten. Da die Supraleitung dieser Materialien (wie inzwischen auch die einer Reihe von Supraleitern bei tiefen Temperaturen) durch die konventionelle Theorie nicht erklärt werden kann, werden sie unkonventionelle Supraleiter genannt.
Ernüchterung machte sich unter den Forschern breit, denn wie sollte gezielt nach besseren Materialien gefahndet werden, wenn der Mechanismus der Hochtemperatursupraleitung nicht richtig verstanden ist?
Eine neue Idee
Im Februar 2008 präsentierten Forscher vom Tokio Institute of Technology ein neues supraleitendes Material mit einer Sprungtemperatur von zunächst einmal unspektakulären minus 248 Grad Celsius – über hundert Grad kälter (und damit „schlechter“) als bei den Rekordhaltern der Kuprate. Die neue Verbindung besteht wie die Kuprate aus sich abwechselnden Schichten von dotiertem Material und isolierendem Oxid. Statt in Ebenen aus Kupferoxid fließt der Strom jedoch in Ebenen aus Eisen und Arsen, die durch nicht leitende Schichten aus Lanthanoxid getrennt werden.
Trotz der niedrigen Sprungtemperatur dieser kürzlich entdeckten sogenannten Pniktide erhielt die Erforschung der Supraleiter neuen Schwung. Um die Sprungtemperatur der eisenhaltigen Materialien zu erhöhen, wurden bereits von den Kupraten bekannte Rezepte sowie neue Ansätze ausprobiert. Und so kann der aktuelle Rekordhalter der Eisenklasse eine Sprungtemperatur von minus 217 Grad Celsius verzeichnen. Obwohl diese weit hinter dem Rekord der Kuprate liegt und für die Kühlung mit Stickstoff nicht ausreicht, ist das Interesse riesig.
Für die Forscher völlig überraschend ist nämlich, dass die neue Klasse von Hochtemperatursupraleitern ausgerechnet auf Eisen basiert. Denn Eisen ist ein magnetisches Material, und normalerweise konkurrieren Magnetismus und Supraleitung gegeneinander. Betrachtet man die Elektronen als winzige Stabmagnete, so entsteht der Magnetismus im Eisen dadurch, dass sich die kleinen abermilliarden Stabmagnete im Festkörper parallel ausrichten. Doch für die konventionelle Supraleitung und auch in den Hochtemperatur-Supraleitern auf Kupferbasis müssen sich die Elektronen antiparallel ausrichten, um sich zu den berühmten Cooperpaaren zusammenschließen und das supraleitende Material ungehindert durchqueren zu können. Nur einige noch exotischere Supraleiter bei tiefen Temperaturen funktionieren bisher mit paralleler Ausrichtung.
Neue Erkenntnisse über Hochtemperatursupraleitung
Hier hoffen viele Forscher, einen entscheidenden Hinweis zur Lösung des Rätsels der Hochtemperatursupraleitung zu finden. Denn obwohl die Eisenarsenid-basierten Supraleiter ähnlich wie die Kuprate aufgebaut sind, verhalten sie sich bisweilen grundlegend anders. So wird der Strom in den Kupraten durch die isolierenden Schichten des Materials in seine Schranken verwiesen und fließt größtenteils längs der Kristallebenen. Forscher mutmaßten, dass diese Einschränkung eine wesentliche Voraussetzung für die Hochtemperatursupraleitung darstellt. Aufgrund der verwandten Schichtstruktur erwarteten die Forscher auch bei den Pniktiden einen zweidimensionalen Stromtransport.
Auch die bewährten Rezepte zur Steigerung der Sprungtemperatur bei Kupraten erscheinen durch die Eisenarsenid-basierten Supraleiter in einem neuen Licht. Eine dieser Methoden ist die Dotierung, bei der Atome der Oxidschicht gegen andere Elemente ersetzt werden. Nach dem Austausch befinden sich in den Leitungsebenen zusätzliche Ladungsträger, denen man eine entscheidende Rolle für das Auftreten des verlustfreien Stromtransportes zusprach. Im Einklang mit den Kupraten beobachteten auch die Entdecker des ersten Eisenarsenid-Supraleiters, dass dieser nur seinen elektrischen Widerstand verlor, wenn Sauerstoffatome durch Fluor ersetzt wurde.
Supraleiter können jedoch Dank ihrer Materialeigenschaften noch einer weiteren Analysemethode unterzogen werden: Man setzt sie unter Druck. So gelang es mehreren Arbeitsgruppen inzwischen, den supraleitenden Zustand der Pniktiden auch durch hohe Drücke anstelle von Dotierung zu erreichen. Bei beiden Prozessen wird das Kristallgitter verzerrt und die Positionen der Atome zueinander verändern sich. Offenbar ist es für die Supraleitung optimal, wenn die Eisen- und Arsenatomen Tetraeder mit Winkeln von 109 Grad bilden. Die Forscher schließen daraus, dass die Geometrie der Atomanordnung in den Materialien die entscheidende Rolle beim Entstehen der Supraleitung spielt. Demnach könnte die Supraleitung beim Dotieren nicht nur wie bisher angenommen durch die zusätzlichen Ladungsträger begünstigt werden, sondern auch aufgrund der Verzerrung des Kristallgitters durch die eingeschleusten Fremdatome. Verstünde man die zugrundliegenden Mechanismen der Hochtemperatursupraleitung, wäre nicht nur eine der aktuellsten Fragen der Festkörperphysik beantwortet. Die Suche nach Verbindungen mit noch höheren Sprungtemperaturen könnte auch wesentlich gezielter angegangen werden.
Die Sprungtemperatur ist nicht alles
Doch neben der Sprungtemperatur sind noch weitere Eigenschaften für technische Anwendungen wichtig: vor allem das von der Supraleitung ausgehaltene kritische Magnetfeld und die Verarbeitbarkeit der Materialien. In beiden Aspekten könnten die neuen Supraleiter gegenüber den Kupraten klar im Vorteil sein. Hohe Magnetfelder treten bei verschiedenen Starkstromanwendungen auf, und die spröden, keramischen Kuprate lassen sich nur mit hohem Aufwand zu langen Bänder oder Kabeln formen, mit denen sich Strom verlustfrei transportieren lässt. So dauerte es fast zwanzig Jahre, bis die Verarbeitung der Kuprate technologisch gemeistert wurde – aufwändig ist sie aber geblieben.
Selbst wenn die neuen eisenbasierten Supraleiter hinter den hohen Erwartungen zurückbleiben sollten – sie zeigen auf jeden Fall, dass eine unerwartet große Vielfalt an Hochtemperatursupraleitern existiert. Dank dieser Erkenntnis ist es möglich geworden, die grundlegenden Mechanismen der „heißen“ Supraleitung in einem ganz neuen Licht zu sehen. Gelingt es, diese Mechanismen zu verstehen, kann zukünftig noch zielgerichteter nach Materialien mit vorteilhafteren Eigenschaften geforscht werden.
Welt der Physik CC by-nc-nd
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/materie/supraleiter/eisenhaltige-supraleiter/