Turbulenz und Chaos
Tobias Schneider
Wie entsteht Turbulenz? Diese Frage bereitet Wissenschaftlern schon lange Kopfzerbrechen. Mithilfe der Chaostheorie und modernen Computern sind inzwischen einige Antworten möglich. Ursachen und Strukturen beginnender Turbulenz werden fassbar.
Achten Sie mal darauf: Dreht man einen Wasserhahn langsam auf, setzt ab einem gewissen Punkt schlagartig – und deutlich hörbar – ein zischendes Geräusch ein. Der Wasserhahn beginnt zu rauschen. Dieses Phänomen ist natürlich nicht auf Badezimmer beschränkt, sondern auch anderswo zu beobachten. Etwa wenn Rauch aufsteigt: Ruhig und gleichmäßig bleibt eine Strömung nur dann, wenn sich die Flüssigkeit oder das Gas langsam bewegt. Doch sobald die Geschwindigkeit des Fluids zunimmt, entstehen irgendwann Wirbel – es bildet sich Turbulenz. Zeitlich schwankende turbulente Strömungen sind es auch, die das Rauschen im Wasserhahn hervorrufen.
Flüssigkeiten und Gase können turbulent werden. Aber wann? Das passiert ab einer bestimmten Strömungsgeschwindigkeit oder einer bestimmten Änderung der Geometrie (z.B. des Rohrdurchmessers). Setzt Turbulenz ein, wird die Strömung „kompliziert“, d.h. sie verändert sich mit der Zeit, wird inhomogen und chaotisch. Außerdem reagiert die Strömung dann extrem empfindlich auf Störungen: Kleinste Änderungen der Bedingungen können enorme Veränderungen in den Strömungen hervorrufen. Diese empfindliche Abhängigkeit von Anfangsbedingungen und Störungen ist für chaotische Systeme typisch (Stichwort: „Schmetterlingseffekt“). Sie verhindert langfristige Vorhersagen atmosphärischer Strömungen und macht Wettervorhersagen über viele Tage unsicher und über Wochen prinzipiell unmöglich.
Turbulenz als Motivation für die Entwicklung der „Chaostheorie“
Vom chaotischen Verhalten turbulenter Strömungen sind die Menschen seit Jahrhunderten fasziniert. Leonardo da Vinci hielt das Phänomen in einer bekannten Zeichnung fest. Die gezielte Untersuchung kam erst viel später. In Laborexperimenten wird die Entstehung der Turbulenz erst seit gut hundert Jahren untersucht, beispielsweise in geometrisch einfachen Umgebungen wie Rohren.
Eines dieser Experimente – ein besonders berühmtes – ist bis heute an der Universität Manchester zu besichtigen: Osborne Reynolds untersuchte dort im Jahr 1883, wann die Wasserströmung in einer geraden Glasröhre mit kreisförmigem Querschnitt – einem idealisierten Heizungsrohr – turbulent wird. Um die Strömung sichtbar zu machen, färbte er einen Teil des Wassers ein und beobachtete anschließend, ob und wann das gefärbte Wasser verwirbelte. Und in der Tat: Ab einer gewissen Strömungsgeschwindigkeit konnte er Turbulenz beobachten.
Ganz so simpel war die Sache aber doch nicht. Zum einen wird die Entstehung von Turbulenz durch kleinste Störungen beeinflusst. Zum anderen neigt Turbulenz dazu, spontan wieder zu verschwinden. Beide Effekte konnten bis heute nicht vollständig erklärt werden.
Turbulenz und Chaos
Die Erforschung der Turbulenz war fruchtbar für die Mathematik: In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde dadurch die Entwicklung der Theorie dynamischer Systeme („Chaostheorie“) angeregt: Die beteiligten Forscher wollten unter anderem chaotische turbulente Strömungen verstehen. Ihre mathematischen Untersuchungen lieferten mehrere bahnbrechende Resultate:
Überrascht stellten die Wissenschaftler fest, dass in manchen simplen Modellsystemen praktisch keine Vorhersage über den zukünftigen Zustand möglich ist – und dies, obwohl sie die Gesetze, nach denen sich diese Systeme zeitlich entwickelten, genau kannten. Die Systeme reagierten einfach zu empfindlich auf Störungen.
Man musste eine Art mathematischen Bankrott erklären: Die Gleichungen, die das ins Chaos driftende System beschrieben, ließen sich nicht allgemein lösen. Doch es gab bald einen Hoffnungsschimmer. Nicht die gesamte Mathematik dieser Systeme war unlösbar. Man fand spezielle, einfache Lösungen der Gleichungen, die „typische“ und durchschnittliche Zustände repräsentierten – zum Beispiel typische Strömungsmuster. Diese speziellen Lösungen lassen sich einfacher untersuchen. Dies sind vor allem „Fixpunkte“, also unveränderliche Lösungen, oder „periodische Orbits“, bei denen das System nach der Periodendauer zum gleichen Zustand zurückkehrt. Diese Lösungen und ihre Eigenschaften verraten einiges darüber, wie Chaos genau entsteht, und es konnten sogar allgemeine Mechanismen der Entstehung identifiziert werden.
Man muss allerdings eine Einschränkung machen. Die Forscher hatten die mathematischen Konzepte zwar entwickelt, um Turbulenz besser zu verstehen, kamen dabei aber nur zu einem Teilerfolg. Sie vermochten die Konzepte von den einfachen Modellsystemen nicht auf turbulente Strömungen übertragen. Diese stellten sich als zu komplex heraus: Partielle Differentialgleichungen beschreiben an jedem Ort, wie schnell und in welche Richtung das Fluid strömt. Für diese Differentialgleichungen lassen sich die oben erwähnten speziellen Lösungen nur mit modernen Computern berechnen.
Turbulenz im Computer
Seit einiger Zeit stehen uns diese Computer nun zur Verfügung. Im letzten Jahrzehnt haben wir begonnen, die speziellen Strömungsmuster in Umgebungen mit einfacher Geometrie zu berechnen. Jetzt können wir auch ihre Eigenschaften beschreiben. Indem wir moderne Hochleistungsrechner mit den mathematischen Methoden verbinden (die einst mit den simplen Modellen entwickelt wurden), nähern wir uns der Realisierung eines Traums. Es war der Traum der Chaos-Pioniere: die Entstehung von Turbulenz zu verstehen.
Ein Beispiel für diese modernen Untersuchungen bietet die „Couette-Strömung“. Sie wurde nach dem französischen Physiker Maurice Couette benannt. Es ist die Strömung einer Flüssigkeit zwischen zwei parallelen Platten hindurch. Diese Platten werden mit konstanter Geschwindigkeit gegeneinander verschoben. Dadurch bilden sich stellenweise turbulente Strukturen – turbulente „Spots“, die im Laufe der Zeit anwachsen und sich wie ein Feuer in den gleichmäßigen (laminaren) Strömungsbereich hinein ausbreiten. Bisher hat man weder die Dynamik noch die Ausbreitung der Turbulenz in der Couette-Strömung komplett verstanden. Doch vor Kurzem wurde ein erster Schritt gemacht: Es konnte eine „Familie“ der oben erwähnten speziellen Lösungen identifiziert werden.
Zukunftsmusik der Turbulenzforschung
Zwei Aspekte der Turbulenz beschäftigen Forscher zurzeit ganz besonders: Zum einen studieren sie Strömungen in Umgebungen mit einfacher Geometrie – zum Beispiel in einem runden geraden Rohr (oder auch die erwähnte Couette-Strömung). Zum anderen erkunden sie Strömungen, die knapp davor sind, turbulent zu werden.
Langfristig möchte man aber weit darüber hinaus gehen. Eines Tages sollen die erwähnten mathematischen Konzepte auch dazu dienen, voll entwickelte Turbulenz zu beschreiben und zu modellieren. Wir würden zum Beispiel gerne die Turbulenz um komplex geformte Fahr- und Flugzeuge, in der Atmosphäre oder in den Akkretionsscheiben sich bildender Sterne und Galaxien verstehen. Ein weiteres wichtiges Ziel ist die Beeinflussung und Steuerung turbulenter Strömungen. Denn schließlich senkt die turbulenzbedingte Reibung die Effizienz vieler technischer Prozesse.
Die Kombination von Konzepten aus der Chaostheorie mit modernen Computersimulationen hat uns weit gebracht: Sie half, unser Verständnis der Turbulenz und ihrer Entstehung deutlich zu vertiefen. Wie weit diese neuen Ansätze tragen, wird sich in den nächsten Jahren herausstellen. Die Turbulenzforschung bleibt auf jeden Fall spannend.
Strömungen werden durch physikalisch-mathematische Gleichungen beschrieben: die sogenannten Navier-Stokes-Gleichungen. Sie können einfach aus den Newtonschen Gesetzen abgeleitet werden: Danach ist die Beschleunigung eines Teilchens proportional zur der Kraft, die auf sie wirkt. Die Navier-Stokes-Gleichungen gelten sowohl für turbulente als auch für laminare (gleichmäßige) Strömungen.
Schreibt man die Navier-Stokes-Gleichungen für ein Fluid wie Wasser auf, das zwischen zwei parallelen, sich gegeneinander bewegenden Platten strömt (Couette-Strömung), dann lassen sie sich vereinfachen. Die resultierende Gleichung hat dann bloß noch einen einzigen Parameter: die Reynoldszahl, die nach Osborne Reynolds benannt ist. Sie wird aus einer typischen Geschwindigkeit, einer typischen Länge (hier: dem Plattenabstand) und der Viskosität der Flüssigkeit gebildet. Mithilfe der Reynoldszahl lassen sich Strömungen in unterschiedlich großen Systemen vergleichen. Ist die Reynoldszahl gleich, sind auch die Strömungsverhältnisse identisch. Dieses Konzept ermöglicht es zum Beispiel, Strömungverhältnisse um ein Flugzeug anhand eines verkleinerten Modells zu untersuchen.
Welt der Physik CC by-nc-nd
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/materie/turbulenz/turbulenz-und-chaos/