„Wir bilden die Struktur von Neuronen nach“
Dirk Eidemüller
Das menschliche Gehirn besteht aus rund hundert Milliarden Nervenzellen, den Neuronen, die durch sogenannte Synapsen miteinander verknüpft sind. In einigen Punkten ist diese Architektur selbst den modernsten Computern überlegen. Daher versuchen Wissenschaftler, das Verhalten von Neuronen und Synapsen nachzuahmen. Die meisten bestehenden Ansätze für solche neuromorphen Netzwerke beruhen derzeit auf Elektronen. Ein neues System nutzt dagegen Lichtteilchen, um Daten noch schneller zu übertragen, zu speichern und zu verarbeiten. Ihren lichtbasierten Computerchip mit vier künstlichen Neuronen und insgesamt sechzig Synapsen stellen die Forscher nun in der Zeitschrift „Nature” vor. Welt der Physik sprach darüber mit Wolfram Pernice von der Universität Münster.
Welt der Physik: Warum sind neuronale Netze interessant?
Wolfram Pernice: Neuronale Netze sind besonders stark im Erkennen aller Arten von Mustern. Das können Bilder sein, Klänge, Sprachen oder auch abstrakte mathematische Strukturen. Unser menschliches Gehirn vollbringt in dieser Hinsicht ja ständig unglaubliche Leistungen – bei außerordentlich geringem Energieverbrauch. Die Idee ist nun, die hohe Geschwindigkeit bei der optischen Datenverarbeitung für solche Aufgaben einzusetzen.
Was ist an der optischen Datenverarbeitung anders als bei der herkömmlichen elektronischen Datenverarbeitung?
In einem normalen Rechner sind Datenspeicher und Prozessor getrennt. Der Datenfluss zwischen diesen beiden Komponenten stellt eine wichtige Hürde und Bremse für die Rechengeschwindigkeit dar. Optische neuronale Netzwerke hingegen funktionieren ausschließlich mit Licht und nicht wie normalerweise mit Elektronen. Dadurch kann der Rechenprozess jeweils mit Lichtgeschwindigkeit durchlaufen werden. Solche Schaltungen lassen sich nicht so einfach programmieren wie ein Computer. Sie könnten aber für spezielle Zwecke eingesetzt werden, insbesondere bei der Mustererkennung. Wir haben nun auf einem Chip ein neuronales Netz realisiert, das mit Licht arbeitet.
Wie haben Sie das umgesetzt?
Unsere Innovation bestand darin, ein sogenanntes Phasenänderungsmaterial einzusetzen, dessen optische Eigenschaften man mithilfe von Laserpulsen gezielt einstellen kann. Solche Materialien finden sich etwa in wiederbeschreibbaren DVDs. Je nachdem, wie lange und wie stark ein Laserpuls an einer bestimmten Stelle wirkt, schaltet sich das Material zwischen einem ungeordneten Zustand und einem kristallinen – in dem sich die Atome regelmäßig anordnen – um. Damit wechseln auch seine optischen Eigenschaften fließend zwischen transparent und undurchsichtig. Mit unseren optischen Schaltungen bilden wir die Struktur von Neuronen vom Prinzip her nach.
Wie lässt sich das Verhalten von Nervenzellen im Gehirn mit einem optischen Netzwerk nachstellen?
Die Synapsen haben wir durch eine dünne Schicht des Phasenänderungsmaterials simuliert, das je nach Stärke der Verknüpfung mehr oder weniger Licht durchlässt. Unsere Neuronen bestehen aus einem sogenannten Ringresonator, dessen Verhalten wir ebenfalls mit einem Phasenänderungsmaterial einstellen können. Auf diese Weise lässt sich in einem ersten Schritt das Verhalten des gesamten Systems rein optisch einstellen. Für das „Training“ konnten wir etablierte Verfahren einsetzen, die auch bei Simulationen von neuronalen Netzen auf herkömmlichen Computern üblich sind. Das fertig trainierte System liefert dann ebenfalls rein optisch eine Antwort auf eine Frage, die wir ihm stellen – zum Beispiel: Was ist das für ein Buchstabe?
Wie groß müsste ein solches Netz werden, um damit interessante Aufgaben zu bewältigen?
Im Augenblick haben wir sechzig „Synapsen“, die als Eingang dienen und eine Bildinformation aufnehmen. Diese Synapsen sind mit vier „Neuronen“ verknüpft, die uns am Ende sagen, welcher der vier ersten Buchstaben des Alphabets vorliegt. Mit mehr Komponenten können wir das ganze Alphabet abbilden. Für praktikable Anwendungen wie etwa eine Spracherkennung bräuchten wir sehr viele Komponenten – im Bereich einiger Tausend. Mit den Fertigungsmöglichkeiten an einer Universität ist das kaum machbar. Aber wir nutzen bereits Standardverfahren, die auch in der Chip-Industrie gängig sind. Mit den entsprechenden Plänen können wir so in Zukunft wesentlich größere Schaltungen realisieren. Ob derartige Chips eines Tages auf einem Handy zu finden sind, lässt sich heute allerdings schwer vorhersagen.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/technik/nachrichten/2019/wir-bilden-die-struktur-von-neuronen-nach/