„Auf der Erde lassen sich solche Tests nicht durchführen“
Dirk Eidemüller
Experimente mit ultrakalten Quantengasen versprechen höchste Präzision bei ganz verschiedenen Arten von Messungen: Zukünftig werden Tests der Grundlagen von Albert Einsteins Relativitätstheorie ebenso möglich sein, wie die Entwicklung von effizienteren Sensoren für die Geodäsie. Nun haben Forschende erstmals ein Gemisch aus zwei unterschiedlichen Quantengasen an Bord der Internationalen Raumstation ISS hergestellt. Im Interview mit Welt der Physik erzählt Naceur Gaaloul von der Universität Hannover von diesem Erfolg und welche neuen Möglichkeiten sich daraus ergeben.
Welt der Physik: Welches Experiment haben Sie auf der Internationalen Raumstation ISS durchgeführt?
Naceur Gaaloul: Zunächst muss ich sagen, dass ich Theoretiker bin und an der Konzeption verschiedener Experimente mitwirke. Für den Aufbau und die Durchführung sind die Kolleginnen und Kollegen aus der Experimentalphysik zuständig. Bei der Auswertung kommen wieder wir Theoretiker ins Spiel. Das Experiment auf der ISS drehte sich um die Erzeugung eines Gemisches aus zwei verschiedenen ultrakalten Quantengasen, die einen speziellen Aggregatzustand einnehmen, ein sogenanntes Bose-Einstein-Kondensat. Auf der Erde war so eine Mischung aus zwei Atomsorten schon geglückt, aber noch nie im Weltraum.
Warum ist das im All so schwierig?
Solche Experimente sind ziemlich komplex. Deshalb bestand unser Team auch aus vielen Forscherinnen und Forschern von US-amerikanischen und deutschen Instituten. Man braucht unter anderem bestimmte Laser, ein Vakuum- und ein Kühlsystem und noch einiges mehr. Auf der ISS gibt es nun seit ein paar Jahren das sogenannte „Cold Atom Laboratory“, das genau auf solche Versuche zugeschnitten ist. Damit haben wir jetzt eben zum ersten Mal die Mischung zweier Quantengase zu einem Bose-Einstein-Kondensat demonstriert.
Wie entsteht ein solches Bose-Einstein-Kondensat?
Wir haben Kalium- und Rubidiumatome sehr tief abgekühlt, bis auf Bruchteile eines Grades über dem absoluten Temperaturnullpunkt. Bei derart tiefen Temperaturen geschieht nun ein eigenartiger quantenphysikalischer Effekt, der von Satyendranath Bose und Albert Einstein vor hundert Jahren theoretisch vorhergesagt wurde: Da Atome zugleich Wellen- und Teilcheneigenschaften haben, besitzen sie auch eine Wellenlänge. Diese Wellenlänge ist nun umso größer, je kälter die Teilchen sind. Bei sehr tiefen Temperaturen überlappen sich diese Atomwellen, sodass die Atome in einen gemeinsamen Quantenzustand geraten und sich wie ein großes Kollektiv verhalten. Diesen besonderen Aggregatzustand nennt man Bose-Einstein-Kondensat. Technologisch ist das auch sehr interessant: Denn weil sich die Atome alle im selben Zustand befinden und winzige äußere Einflüsse sichtbar machen können, eignen sich solche Kondensate hervorragend als hochempfindliche Quantensensoren.
Wozu benötigt man Kondensate aus zwei unterschiedlichen Atomsorten?
Solche Mischungen wollen wir in Zukunft nutzen, um eines der Grundprinzipien von Einsteins Relativitätstheorie zu testen – das Äquivalenzprinzip. Es besagt, dass schwere und träge Masse letztlich ein und dasselbe sind. Unter anderem bedeutet das, dass alle Materie im freien Fall gleich schnell beschleunigt wird. Falls das Prinzip verletzt ist, müsste man aber zumindest eine winzige Diskrepanz beobachten können. Man würde dann also zum Beispiel beobachten, dass unterschiedliche Arten von Materie unterschiedlich stark auf die Schwerkraft reagieren. Bisherige Tests haben zwar das Äquivalenzprinzip mit sehr hoher Genauigkeit bestätigt. Aber Bose-Einstein-Kondensate sind so empfindlich, dass wir die Genauigkeit des Tests des Äquivalenzprinzips nochmal um rund zwei Größenordnungen steigern könnten.
Wie soll dieses Experiment, also der Test des Äquivalenzprinzips, ablaufen?
Wir wollen extrem genau untersuchen, ob sich die beiden unterschiedlich schweren Atomsorten des Bose-Einstein-Kondensats in Schwerelosigkeit wirklich genau gleich verhalten. Auf der Erde lassen sich solche Tests nicht durchführen, da die Schwerkraft für eine Trennung der beiden Atomsorten sorgt. Wie wir jetzt bei den Versuchen gesehen haben, stoßen sich die Kalium- und die Rubidiumatome gegenseitig ab. Es bilden sich also Phasengrenzen wie zwischen Öl und Wasser. Was genau das für den zukünftigen Test des Äquivalenzprinzips bedeutet, beziehungsweise für das Design des Experiments, müssen wir noch genauer analysieren.
Welche Genauigkeit würde sich denn damit erzielen lassen?
Irdische Tests des Äquivalenzprinzips haben eine Genauigkeit von zwölf Nachkommastellen erreicht. Das ist schon sehr gut. Jedoch gibt es verschiedene Theorien, die über die Relativitätstheorie hinausgehen und dieses Prinzip zumindest ganz schwach verletzen. Um das zu überprüfen, muss man also noch genauer testen. Auf der Erde lässt sich wegen unvermeidbarer seismischer Schwingungen, Gravitation und anderer Effekte keine deutliche Verbesserung mehr erzielen. Den besten Test hat ein kürzlich beendetes Experiment auf dem MICROSCOPE-Satelliten erbracht – mit einer Genauigkeit von 15 Nachkommastellen. Unser Ziel ist es, künftig mit einer Satellitenmission das Äquivalenzprinzip auf voraussichtlich 17 Nachkommastellen zu testen.
Lassen sich Experimente mit Bose-Einstein-Kondensaten an Bord von Satelliten auch für andere Zwecke nutzen?
Die extrem hohe Messgenauigkeit, die bei solchen Messungen möglich ist, soll künftig insbesondere in der Geodäsie zum Einsatz kommen. Bislang vermisst man das Schwerefeld der Erde mit Hilfe von Satelliten-Duos wie „Grace Follow-On“. Das sind zwei Satelliten, die kurz hintereinander über die Erde fliegen. Der Abstand zwischen den Satelliten ändert sich, wenn einer der Satelliten über ein Gebiet der Erde fliegt, das eine höhere oder niedrigere Dichte aufweist. Damit lässt sich unter anderem sehen, wie viel Grundwasser eine Region bei einer Dürreperiode verloren hat. Quantensensoren mit Bose-Einstein-Kondensaten sollen bei solchen Missionen künftig wertvolle Dienste leisten, weil sie effizienter sind als herkömmliche Messtechniken.
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Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/technik/quantenmechanik-quantentechnik/internationale-raumstation-auf-der-erde-lassen-sich-solche-tests-nicht-durchfuehren/