Das Top-Quark
Das Top-Quark ist das massereichste aller bekannten Elementarteilchen, ähnlich schwer wie ein Goldatom. Auch rund zwanzig Jahre nach seiner Entdeckung stellt es Teilchenphysiker vor theoretische und experimentelle Herausforderungen. Antworten erhoffen sich Forscher vor allem von Experimenten am Large Hadron Collider des Forschungszentrums CERN.
Top-Quarks kommen in der Natur nicht direkt vor. Sie sind, anders die verwandten und deutlich leichteren Up- und Down-Quarks, keine Bausteine der uns umgebenden Materie. Um Top-Quarks zu untersuchen, müssen diese deshalb in hochenergetischen Teilchenkollisionen erzeugt werden. Zum ersten Mal geschah dies am Tevatron, einem Teilchenbeschleuniger am Forschungszentrum Fermilab in den USA. Seit 2010 werden Top-Quarks auch am Large Hadron Collider (LHC) regelmäßig erzeugt. Seit das Tevatron im Jahr 2011 stillgelegt wurde, ist der LHC weltweit der einzige Teilchenbeschleuniger, der dazu in der Lage ist. Sie entstehen dort in großer Stückzahl in Proton-Proton-Kollisionen und werden von Forschern mit den Experimenten ATLAS und CMS analysiert. Seinen Platz im Standardmodell hat das Top-Quark als Partner des Bottom-Quarks in der dritten Generation der Materieteilchen. Von allen Materieteilchen wird angenommen, dass sie punktförmig sind. Das Top-Quark trägt gemäß des Standardmodells eine positive Ladung von zwei Dritteln der Elementarladung und nimmt, wie alle Quarks, sowohl an der elektromagnetischen als auch an der Schwachen und der Starken Wechselwirkung – also allen Grundkräften der Teilchenphysik – teil.
Die Überprüfung dieser Annahmen ist fester Bestandteil des Messprogramms der Experimente am LHC. Es sind allerdings zwei weitere Eigenschaften des Top-Quarks, die ihm eine Sonderstellung unter den Elementarteilchen verleihen: seine außergewöhnlich große Masse und die extrem kurze Lebensdauer. Insbesondere die große Masse lässt Teilchenphysiker vermuten, dass das Top-Quark eine besondere Stellung im Standardmodell einnimmt und den Schlüssel zu einer zukünftigen Erweiterung des Modells bilden könnte. Mit präzisen Messungen der Eigenschaften des Top-Quarks am LHC sollen deshalb zum einen Rückschlüsse auf die Gültigkeit des Standardmodells gezogen werden, zum anderen aber auch Aussagen über Prozesse jenseits dieser etablierten Theorie getroffen werden.
Besondere Eigenschaften
Die Masse des Top-Quarks ist nicht nur größer als die aller anderen bekannten Teilchen, sie hat auch einen ungewöhnlichen Zahlenwert. Im Standardmodell wird die Masse eines Teilchens durch seine Kopplung an das Higgs-Feld beschrieben. Die Stärke dieser sogenannten Yukawa-Kopplung ist dabei eine dimensionslose Zahl und ein direktes Maß für die Masse eines Teilchens, angegeben als Verhältnis der Teilchenmasse zum Vakuum-Erwartungswert des Higgs-Feldes. Die experimentell bestimmte Masse des Top-Quarks von etwa 173 Gigaelektronenvolt entspricht im Standardmodell einer Yukawa-Kopplung von etwa eins. Die Frage nach der außergewöhnlich großen Masse des Top-Quarks kann also auch umgekehrt gestellt werden: Warum sind die Massen aller anderen Elementarteilchen so gering? Zum Vergleich: Die Massen der anderen Quarks bewegen sich zwischen etwa zwei Megaelektronenvolt und vier Gigaelektronenvolt. Aus dem Standardmodell geht ebenfalls hervor, dass auch die mittlere Lebensdauer des Top-Quarks aufgrund seiner großen Masse sehr gering ist. Sie beträgt etwa 10–25 Sekunden, und ist damit etwa eine Größenordnung kleiner als die typische Zeitskala von Prozessen der Starken Wechselwirkung.
Die fünf leichteren Quarks sind aufgrund der Wirkung dieser Kraft nur in gebundenen Zuständen zu finden und können nicht als freie Teilchen existieren. Sie treten meistens in Quark-Antiquark-Zuständen auf, die Mesonen genannt werden, oder mit drei Quarks in sogenannten Baryonen. Das Top-Quark wird allerdings nicht in solchen Bindungszuständen beobachtet: Es zerfällt bevor es eine Bindung eingehen kann und ist damit das einzige Quark, das quasi ungebunden auftritt. Die übliche Untersuchungsmethode der sogenannten Hadronenspektroskopie an Mesonen und Baryonen kann deshalb auf das Top-Quark nicht angewendet werden. Dafür tragen die Zerfallsprodukte eines Top-Quarks dessen gesamte Information, sodass deren Messung ein unverfälschtes Abbild der Eigenschaften des Top-Quarks liefert.
Vorhersage und Entdeckung
Die experimentelle Suche nach einer dritten Generation von Quarks begann bereits in den 1970er-Jahren. Sie war insbesondere durch die Arbeiten der beiden japanischen Physiker Makoto Kobayashi und Toshihide Maskawa motiviert. Sie hatten als Teil der Erklärung des Phänomens der CP-Verletzung eine dritte Generation von Quarks vorhergesagt. Ohne dass je ein Top-Quark direkt im Experiment nachgewiesen worden wäre, lieferten die Entwicklung des Standardmodells und verschiedene Messungen an Teilchenexperimenten ein konsistentes Bild des Top-Quarks.
Nach einer lange Reihe von Suchprogrammen an verschiedenen Laboren in Europa und den USA wurde eine direkte Produktion des Top-Quarks schließlich 1995 am Tevatron entdeckt. Die große Masse des Teilchens hatte seine Entdeckung verzögert: Je größer die Masse eines Teilchens ist, desto höher muss die von dem Beschleuniger gelieferte Schwerpunktsenergie sein. Diese ist allerdings meist durch den Stand der Technik begrenzt. Seit 2010 werden Top-Quarks auch am LHC produziert und vermessen.
Wie werden Top-Quarks untersucht?
Top-Quarks können einzeln produziert werden, treten jedoch häufiger als Paare von Teilchen und Antiteilchen auf. Aufgrund ihrer sehr kurzen Lebensdauer zerfallen sie unmittelbar in komplexe Endzustände, welche Elektronen, Myonen, Neutrinos und Quarks enthalten können. Eines der experimentellen Probleme in diesem Forschungsbereich ist deren Nachweis und präzise Vermessung.
Die vielen unterschiedlichen Teilchen im Endzustand eines Top-Zerfalls werden in mehreren Detektorkomponenten gemessen, die alle einwandfrei funktionieren müssen. Jede Messunsicherheit in einem der Detektorabschnitte macht sich in der Rekonstruktion und Interpretation der Eigenschaften der Top-Quarks bemerkbar. Die Top-Quarks werden schließlich bezüglich verschiedener Aspekte untersucht, etwa hinsichtlich ihrer Masse, ihrer Flugrichtung oder ihres Impulses.
Herausforderungen an das Standardmodell
Faszinierend für Teilchenphysiker ist die große Bandbreite an Messungen, die das Top-Quark ermöglicht. Da es im Standardmodell an allen Wechselwirkungen teilnimmt, können Forscher die Kopplungen des Top-Quarks an die Austauschteilchen der verschiedenen Kräfte messen und mit der Theorie abgleichen. Beispielsweise werden die Raten von Ereignissen mit Top-Quarks und zusätzlichen Photonen oder die gleichzeitige Produktion von zwei Top-Quarks und einem Z-Boson gemessen. Vergleiche dieser Art sind mitunter sehr genaue Tests des Standardmodells, allerdings stellt die angestrebte Präzision sowohl theoretisch als auch experimentell arbeitende Teilchenphysiker vor Schwierigkeiten. Bis zum Start des LHC waren diese Untersuchungen durch die geringe Anzahl beobachteter Top-Quarks beschränkt. Inzwischen liegen die größten Unsicherheiten im Verständnis der Experimente und der theoretischen Modelle begründet.
Die Messung mit dem wohl stärksten Anspruch an Präzision ist die der Masse des Top-Quarks. In heutigen Messungen werden relative Unsicherheiten von unter einem Prozent erreicht, was im Vergleich zur Massenbestimmung leichter Quarks ein Rekord ist. Die Studien sind zum einen wichtig, weil die Masse des Top-Quarks, wie auch bei allen anderen Teilchen, ein freier Parameter des Standardmodells ist. Das bedeutet, dass sie sich nicht aus der Theorie ergibt, sondern gemessen und in das Modell eingesetzt werden muss. Zum anderen aber ist die Masse des Top-Quarks direkt mit dem Higgs-Mechanismus und dessen Gültigkeit verknüpft. Rechnungen zeigen, dass die Stabilität des Higgs-Potentials – eine Voraussetzung für das Funktionieren des Higgs-Mechanismus – direkt von diesen theoretisch nicht vorhergesagten Massen des Higgs-Bosons und des Top-Quarks abhängt.
Physikalische Prozesse jenseits des Standardmodells
Viele Modelle jenseits des Standardmodells gehen davon aus, dass neue schwere Teilchen oder bislang unbekannte Wechselwirkungen insbesondere an das Top-Quark koppeln. Dafür wird wiederum die große Masse des Top-Quarks verantwortlich gemacht. Die Teilchen in solchen Modellen hören meist auf exotische Namen, zum Beispiel vektorartige Quarks oder Kaluza-Klein-Gluonen, oder es sind zusätzliche Eichbosonen wie etwa das Z'. Die präzisen Messungen der Eigenschaften des Top-Quarks helfen dabei, solche Erweiterungen des Standardmodells nachzuweisen oder, falls diese nicht beobachtet werden, weiter einzuschränken.
Es gilt bei der Suche nach Abweichungen von Vorhersagen des Standardmodells: Aussagen über neue physikalische Phänomene auf der Basis experimenteller Beobachtungen sind nur dann glaubwürdig, wenn die zugrundeliegende Theorie genau verstanden ist. So ist es auch im Fall des Top-Quarks und seiner Eigenschaften der Anspruch der Teilchenphysiker, Messungen mit größtmöglicher Präzision durchzuführen, um sie mit genauen theoretischen Vorhersagen vergleichen zu können.
Wo steht die Physik?
Im aktuellen zweiten Lauf des LHC werden deutlich mehr Top-Quarks produziert als jemals zuvor. Von den derzeit etwa eintausend Publikationen der ATLAS- und CMS-Kollaborationen ist rund jede zehnte dem Top-Quark gewidmet. Die Experimente sollen die Vermessung von sehr seltenen Prozessen, zum Beispiel der Kopplung des Top-Quarks an das Higgs-Boson, ermöglichen. Zudem eröffnet die erhöhte Energie der LHC-Kollisionen neue kinematische Bereiche und erhöht so die Wahrscheinlichkeit, neue Teilchen oder Kräfte mithilfe von Top-Quarks sichtbar zu machen.
Ob nun die Eigenschaften des Top-Quarks genau untersucht werden, experimentelle Messungen in diesem Bereich mit Vorhersagen verglichen werden oder direkt nach neuer Physik mit Top-Quarks gesucht wird – das Top-Quark ist zurzeit einer der letzten Außenposten des Standardmodells und kann eine Brücke zwischen diesem und möglicher neuer Physik schlagen.
Welt der Physik CC by-sa
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/bausteine/das-top-quark/