„Das Higgs-Boson könnte Hinweise auf Dunkle Materie geben“
Dirk Eidemüller
Das Standardmodell der Teilchenphysik beschreibt die elementaren Bausteine der uns bekannten Materie sowie die Kräfte, die zwischen diesen Elementarteilchen wirken. Dabei spielt ein Teilchen eine ganz besondere Rolle – das Higgs-Boson, das den anderen Elementarteilchen ihre Masse verleiht. Nachdem es bereits 1964 von drei Physikern vorhergesagt wurde, konnte es nach langer Suche im Jahr 2012 am Forschungszentrum CERN in Genf endlich nachgewiesen werden. Warum auch heute noch viele Physikerinnen und Physiker das Higgs-Teilchen eingehend untersuchen, erklärt Kerstin Tackmann vom Forschungszentrum DESY und der Universität Hamburg im Interview mit Welt der Physik.
Welt der Physik: Was macht das Higgs-Boson so besonders?
Tackmann: Es ragt in gewisser Weise heraus, weil es weder zu den Materieteilchen gehört – wie etwa Elektronen oder Quarks – noch zu den sogenannten Kraftteilchen, die für die vier grundlegenden physikalischen Kräfte zuständig sind. Alle Teilchen des Standardmodells der Teilchenphysik – außer dem Higgs-Boson – sind entweder Materie- oder Kraftteilchen. Mit letzteren lassen sich die zwischen den Materieteilchen herrschenden Kräfte beschreiben. Dazu zählen etwa die Photonen, also die Lichtteilchen, die elektromagnetische Wechselwirkungen vermitteln. Schon in den 1960er-Jahren zeigten die Theoretiker François Englert, Peter Higgs und Robert Brout, dass die Masse der Kraftteilchen erklärt werden kann, wenn es ein weiteres Teilchen mit besonderen Eigenschaften gibt. Peter Higgs zu Ehren hat man dieses Teilchen dann später Higgs-Boson genannt.
Das Higgs-Teilchen wurde aber erst knapp 50 Jahre später experimentell nachgewiesen. Warum war die Suche so schwierig?
Es hat in der Tat Jahrzehnte gedauert, das Higgs-Boson endlich dingfest zu machen und mit der nötigen Signifikanz in den Daten nachzuweisen. Eine Schwierigkeit war, dass sich aus den Standardmodell-Berechnungen nicht schlussfolgern lässt, welche Masse das Higgs-Boson haben sollte. Mit Experimenten am Vorläufer des Large Hadron Collider am CERN in Genf, dem Large Electron-Positron Collider, sowie dem Teilchenbeschleuniger Tevatron am Fermilab bei Chicago gelang es, bestimmte Massenbereiche auszuschließen. Die darauffolgenden Experimente am Large Hadron Collider, dem LHC, waren dann dazu optimiert, den restlichen Massenbereich komplett abzudecken.
Außerdem wurden erst mit dem LHC genug Daten für einen Nachweis gesammelt, oder?
Genau, denn die Rate, mit der Higgs-Bosonen erzeugt werden, ist ziemlich gering, und es zerfällt fast instantan wieder in andere Teilchen. Man kann es also nur indirekt nachweisen, indem man nach bestimmten Kombinationen von Zerfallsprodukten sucht. Nun kollidieren in Teilchenbeschleunigern wie dem LHC viele Partikel mit extrem hoher Energie miteinander und erzeugen dabei über eine Vielfalt von Prozessen eine Unmenge von Sekundärpartikeln. Deswegen braucht man eine ausreichend große Mengen an Daten. Und aus diesem Wust von Daten die wenigen Ereignisse herauszufiltern, die einen klaren Nachweis von Higgs-Bosonen zulassen, erfordert jahrelange Arbeit und hat Teilchenphysikerinnen und -physiker wirklich lange beschäftigt.
Wie genau funktioniert der Nachweis über die Zerfallsprodukte?
Teilchen wie das Higgs-Boson sind wie gesagt sehr instabil und können auf verschiedene Weise in leichtere Teilchen zerfallen. Wir sprechen von sogenannten Zerfallskanälen. Das Higgs-Boson ist außerdem ziemlich schwer – ungefähr 130-mal so schwer wie ein Proton. Und die Teilchen, in die es zerfällt, können auch bei anderen Prozessen entstehen. Das macht die Suche nach ihm sehr schwierig, weil sich viele dieser Zerfälle im Detektor kaum von anderen, uninteressanten Kollisionsereignissen unterscheiden lassen, bei denen ebenfalls eine Vielzahl von Teilchen freigesetzt wird. Wir suchen deshalb nach ganz bestimmten Signaturen in den großen Detektoren. Besonders vielversprechend waren in der Vergangenheit solche Zerfälle, bei denen das Higgs-Boson zwei Photonen oder Paare von anderen Kraftteilchen freigesetzt hat.
Entsprechen die Ergebnisse zum Higgs-Boson denn den Vorhersagen des Standardmodells?
Bislang wurde noch nichts gefunden, was dem Standardmodell widersprechen würde. Nun sind Teilchenphysikerinnen und -physiker stets auf der Suche nach etwas Unbekanntem, was auf neuartige Physik jenseits des Standardmodells hinweisen würde. So steht schon seit langer Zeit die Frage im Raum, was es mit der Dunklen Materie auf sich hat, die vom Standardmodell nicht erklärt wird. Laut kosmologischen Messungen hat diese unsichtbare Materieform im Universum deutlich mehr Masse als die uns bekannte, sichtbare Materie.
Und das Higgs-Boson soll bei der Suche nach Dunkler Materie weiterhelfen?
Die Überlegung geht folgendermaßen: Die Dunkle Materie scheint, außer über ihre Schwerkraft, nur extrem schwach oder vielleicht sogar überhaupt nicht mit normaler Materie in Wechselwirkung zu treten. Die bisherige Suche nach Dunkler Materie hat hierauf zumindest noch nicht den kleinsten Hinweis erbracht. Aber Dunkle Materie besitzt Masse. Deshalb könnte sie an das Higgs-Boson koppeln. Durch eine sehr präzise Vermessung der Eigenschaften des Higgs-Bosons und insbesondere seiner Zerfallskanäle, sowie die Suche nach Zerfällen in Dunkle-Materie-Teilchen könnten sich also potenziell Hinweise auf Dunkle Materie finden lassen.
Wodurch würden sich Zerfälle in Dunkle Materie bemerkbar machen?
Wir sprechen von sogenannten unsichtbaren Zerfallskanälen. Diese Ereignisse sehen in einigen Aspekten ähnlich aus wie andere Prozesse, in denen Higgs-Bosonen produziert werden – nur dass eben eine bestimmte Energiemenge in der Gesamtsumme fehlt. Diese Energie könnte von der Dunklen Materie weggetragen worden sein.
Was möchten Sie noch über das Higgs-Teilchen herausfinden?
Zunächst möchten wir verstehen, ob das Higgs-Boson so mit den anderen Teilchen wechselwirkt, wie das Standardmodell das vorhersagt. Dafür vermessen wir so viele seiner Produktions- und Zerfallskanäle wie möglich. Dabei hilft es uns auch, seine Kinematik zu vermessen, etwa mit welchem Impuls es sich nach seiner Erzeugung bewegt. Auch die Winkelverteilungen bei seinen Zerfällen beinhalten Information, die wir auswerten. Ein weiterer Punkt ist die Frage, ob auch zwei Higgs-Bosonen auf einmal erzeugt werden können. Das sollte laut dem Standardmodell rund 1000 Mal seltener geschehen als die Erzeugung eines einzelnen Higgs-Bosons. Das wird ein spannendes Thema für den zukünftigen Ausbau des LHC und andere künftige Beschleuniger. Und schließlich gibt es die große Frage, ob es wirklich nur ein Higgs-Boson gibt, oder ob es vielleicht Geschwisterteilchen gibt.
Was für Teilchen wären das?
Laut einer der gängigen Erweiterungen des Standardmodells – der sogenannten Supersymmetrie – sollte es insgesamt vier Geschwisterteilchen des Higgs-Bosons geben. Diese hätten zum Teil ähnliche Eigenschaften wie das bereits nachgewiesene Higgs-Boson. Aber in manchen Eigenschaften sollten sie sich von ihm unterscheiden. So sollten etwa zwei dieser Higgs-Geschwister eine elektrische Ladung tragen, während das normale Higgs-Boson elektrisch neutral ist. Sollten wir also eines Tages Spuren eines Higgs-ähnlichen Teilchens im Detektor finden, das eine elektrische Ladung aufweist, wäre das ein enorm spannender Hinweis auf ein bislang unbekanntes, möglicherweise supersymmetrisches Higgs-Geschwisterteilchen.
Nun sucht man schon seit Jahren nach solchen Teilchen. Auf welche Weise könnte der Nachweis in Zukunft klappen?
Wir haben natürlich in den vergangenen Jahren die Parameterbereiche von Erweiterungen des Standardmodells stark eingeschränkt. Denn solche alternativen Theorien führen bei bestimmten Parametern – wie etwa der Häufigkeit bestimmter Zerfallskanäle – zu Abweichungen von den Vorhersagen des Standardmodells. Durch eine Analyse verschiedener Parameter lässt sich also das Standardmodell testen, wobei es bislang aber stets bestätigt worden ist und die alternativen Theorien das Nachsehen hatten. Dennoch gibt es durchaus Parameterbereiche, die experimentell noch wenig untersucht sind. So sind zum Beispiel Signaturen mit komplizierten Endzuständen, etwa mit langlebigen neuen Teilchen, zurzeit sehr interessant.
Welche Möglichkeiten wollen die Forscher in Zukunft nutzen?
Im Wesentlichen stehen zwei große strategische Entwicklungen an. Eine beschlossene Sache ist die Aufrüstung des LHC hin zu einer deutlich höheren Luminosität, zum sogenannten „High-Luminosity LHC“. Man steigert dabei nicht mehr stark die Endenergie der Protonen im Speicherring. Da gibt es nämlich physikalische Grenzen, wie die Stärke der Magnetfelder im bestehenden Speicherring, die sich nicht mehr sehr viel weiter ausreizen lassen. Aber wir werden die Gesamtzahl an Kollisionen – die sogenannte integrierte Luminosität – deutlich erhöhen, und zwar um rund das Zehnfache. Das bedeutet auch, dass die Detektoren und ihre Elektronik sehr viel schneller und strahlungshärter werden müssen. Der High-Luminosity LHC wird dann rund 15 Millionen Higgs-Bosonen pro Jahr erzeugen. Ab dem Jahr 2029 wird dieser Ausbau über Jahrzehnte hinaus Maßstäbe setzen. Denn damit lässt sich nicht nur das Higgs-Boson genauer untersuchen, sondern wir wollen auch weiterhin alle möglichen anderen teilchenphysikalischen Fragen angehen.
Und gibt es noch alternative Ideen und Projekte?
Ebenfalls heiß diskutiert wird gegenwärtig eine sogenannte Higgs-Factory. Besonders geeignet dazu wäre eine Anlage, die Elektronen und Positronen aufeinander schießt. Das soll bei einer Energie passieren, die eine besonders hohe Erzeugungsrate von Higgs-Bosonen verspricht – und zwar bei verschiedenen Energien, um möglichst viele Prozesse genau vermessen zu können. Dafür reicht schon eine deutlich geringere Energie als beim LHC. Im Augenblick debattieren die Expertinnen und Experten weltweit, ob eine solche Anlage besser als Ring- oder als Linearbeschleuniger ausgeführt werden sollte. Mögliche Standorte wären neben dem CERN in der Schweiz auch Forschungszentren in China oder Japan. Mit einer solchen Higgs-Factory würde man ebenso wie mit dem High-Luminosity LHC so viele Higgs-Bosonen erzeugen, dass man auch Fragen zu seltenen Erzeugungs- und Zerfallskanälen des Higgs-Bosons untersuchen kann. Damit lässt sich das Standardmodell eingehend prüfen. Und wer weiß: Vielleicht kommen wir dem Rätsel der Dunklen Materie auf die Spur!
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Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/bausteine/higgs/teilchenphysik-das-higgs-boson-koennte-hinweise-auf-dunkle-materie-geben/