„Wir sind gespannt auf die neuen Daten“

Nora Kusche

Frontalansicht auf den Detektor des Teilchenbeschleunigers LHC am Cern.

Haben Physiker am Teilchenbeschleuniger LHC am CERN ein neues Teilchen jenseits des Standardmodells entdeckt? Welt der Physik sprach mit Peter Mättig, der am ATLAS-Experiment arbeitet.

Welt der Physik: Die letzten großen Entdeckungen in der Physik – Gravitationswellen und Higgsteilchen – haben die bestehenden Standardtheorien bestätigt. Sind die Forscher am CERN gerade einer Entdeckung auf der Spur, die genau das Gegenteil macht, nämlich das Standardmodell der Teilchenphysik zu widerlegen?

Portrait Peter Mättig

Peter Mättig

Peter Mättig: „Nachdem wir sozusagen die Pflicht mit der Entdeckung des Higgs-Teilchens absolviert haben, geht es jetzt um die Kür. Das heißt, wir suchen am LHC sehr intensiv nach neuen Effekten, die über das Standardmodell hinausweisen. Allerdings ist es bisher noch völlig unklar, in welche Richtung das gehen wird. Klar ist nur, dass wir neue Physik brauchen, um Phänomene wie die Dunkle Materie zu erklären. Dabei ist jeder Hinweis wertvoll, wo wir diese neue Physik finden können. Die LHC-Daten des letzten Jahres, als der Beschleuniger mit höheren Energien lief, zeigen eine kleine Überhöhung, die als ein solcher Hinweis interpretiert werden könnte.“

Können Sie beschreiben, was genau Sie in den Messdaten der beiden LHC-Detektoren ATLAS und CMS entdecken konnten?

„Also, in den Messdaten wurde noch nichts Signifikantes entdeckt. Man kann allerdings sagen, dass es den suggestiven Hinweis auf ein bislang unbekanntes, neues Teilchen mit einer Masse von 750 Gigaelektronenvolt gibt. Gefunden wurde das in einer Signatur, die wir schon vom Higgs kennen: Dabei tauchen bei einer bestimmten Energie mehr Photonenpaaren auf als erwartet. Die Photonenpaare sind ein Hinweis darauf, dass es ein Teilchen mit dieser bestimmten Masse gibt, das in zwei Photonen zerfällt. 2012 sahen wir am LHC überraschend viele Photonenpaare bei 125 Gigaelektronenvolt und entdeckten so das Higgs-Teilchen. Beim zweiten Lauf des LHC im Jahr 2015 konnten wir nun Doppelphoton-Ereignisse bei 750 Gigaelektronenvolt ausmachen – im ATLAS-Detektor hatten wir zehn bis fünfzehn davon, beim anderen Detektor waren es etwas weniger.“

LHC-Stahlrohr Bildergalerie des CMS-Detektors

Teilchenkollisionen detektieren

Was bedeutet suggestiver Hinweis? Warum formulieren Sie das so vorsichtig?

„Die statistische Wahrscheinlichkeit, dass es sich um ein echtes Ereignis handelt, ist bei dem aktuellen Fund nicht sehr hoch – die Signifikanz liegt zwischen zwei und drei Standardabweichungen. Das heißt, es könnte sich auch nur um eine zufällige Abweichung handeln und deshalb können wir noch nicht von einer Entdeckung sprechen. Aber es ist in jedem Fall eine interessante Indikation.“

Und was macht diese Indikation so interessant?

„Mit dem Higgs haben wir das letzte vorhergesagte Teilchen gefunden. Im Standardmodell kommt ein Teilchen mit einer Masse von 750 Gigaelektronenvolt, das unter anderem in zwei Photonen zerfällt, nicht vor. Zwar wurden auch bei vorigen Messungen schon vereinzelt Ereignisse bei dieser Energie gesehen, aber die wurden nicht ernst genommen, weil sie nicht deutlich genug waren. Jetzt beim neuen Lauf haben die Physiker die Kollisionsenergien im Beschleuniger von 8 auf 13 Teraelektronenvolt hochgeschraubt und damit lassen sich Teilchen mit großen Massen besser finden. Das Signal ist jetzt deutlicher und wenn es sich wirklich als real herausstellt, dann existiert ein neues Teilchen, das mit den bekannten physikalischen Theorien nicht erklärt werden kann. Das heißt, wenn es dieses Teilchen gibt, weist uns das in Richtung einer neuen Physik.“

Die am ATLAS-Experiment gemessene Photon-Verteilung, aufgetragen sind im Diagramm waagerecht die Energie in Gigaelektronenvolt und senkrecht die Anzahl der Ereignisse. Bei 750 Gigaelektronenvolt sieht man den kleinen Ausreisser. Das ist das Signal, das Teilchenphysiker derzeit so intensiv zu interpretieren versuchen.

Photon-Verteilung

Seit dem Fund im Dezember des letzten Jahres sind über dreihundert wissenschaftliche Paper erschienen, die das Teilchen zu erklären versuchen. Welche Thesen sind Ihrer Meinung nach am plausibelsten?

„Sehr populär ist im Augenblick ein Erklärungsansatz, der das Standardmodell erheblich erweitert. Und zwar indem er neue, sehr schwere Arten von Fermionen, also Materieteilchen, voraussetzt, die ganz andere Eigenschaften als die bekannten Elementarteilchen haben. Das würde auch bedeuten, dass man andere Kräfte postulieren müsste, beziehungsweise hätten wir dann eine zusätzliche Kraft, die anders ist als das, was wir bisher kennen. Klar, gibt es auch Interpretationen, die sagen, das neue Teilchen sei ein schwerer Cousin vom Higgs-Teilchen oder das sei ein supersymmetrisches Teilchen. Aber das ist alles ziemlich weit hergeholt und man müsste ganz schön in die Trickkiste greifen, um das stimmig zu lösen.“

Das Signal wurde schon vor mehreren Monaten gefunden, warum diskutieren Teilchenphysiker jetzt wieder verstärkt über den Fund?

„Ein bisschen frage ich mich das auch. Aber es sind jetzt auf der Moriond-Konferenz in Italien – das ist die zentrale Tagung für Teilchenphysik im Winter – noch einmal die überarbeiteten experimentellen Befunde vorgestellt worden. Zum Teil haben die Experimente ATLAS und CMS ihre Analyse verbessert und die Signifikanz etwas erhöht. Interessant ist natürlich auch die Zusammenfassung der Interpretationsversuche, die in Moriond vorgestellt wurde. Aber trotzdem hat sich das Bild nicht wesentlich verändert zu dem, was im Dezember präsentiert wurde. Wir sind deshalb gespannt auf die neuen Daten, die wir jetzt in den nächsten Monaten sammeln werden. Und dann können wir endgültig sagen, ob da etwas ist oder ob es nur eine statistische Fluktuation, also Zufall, war.“

Alles, was wir sehen – Menschen, Tiere, Pflanzen, Erde und Planeten – besteht aus Materieteilchen. Insgesamt gibt es zwölf Materieteilchen, die in sechs Quarks und sechs Leptonen unterteilt werden. Beide Gruppen bestehen aus Teilchen dreier Familien.

Standardmodell der Teilchenphysik

Wenn die Entdeckung bestätigt wird, müssen wir dann die Teilchenphysik oder die ganze Physik neu denken?

„Wir müssen hier sehr, sehr vorsichtig sein: Also, wenn dieses Signal sich wirklich als richtig herausstellt, wird es die ganze Teilchenphysik und die ganze Interpretation des Teilchenmodells erschüttern und etwas völlig Neues eröffnen. Allerdings ist das Standardmodell so eine gute Theorie, die werden wir nicht von heute auf morgen aufgeben. Vielmehr müsste das bisherige Standardmodell der Teilchenphysik in der neuen Theorie enthalten sein. So wie die klassische Physik von der Quantenmechanik eingeschlossen wird oder die Gleichungen der Relativitätstheorie sich bei niedrigen Geschwindigkeiten zu der Newtonschen Mechanik kürzen lassen.“

Und wie lange dauert es noch, bis man weiß, ob das Signal echt ist? Ist Ende dieses Sommers realistisch?

„Das sind immer so selbst gesetzte Ziele, auf die wir hinarbeiten. Wir beginnen im April dieses Jahres mit erneuten Messungen und hoffen zu den großen Teilchenphysik-Konferenzen im Sommer die ersten Ergebnisse zu haben. Ob der Beschleuniger bis dahin genügend Daten liefert, ist noch nicht klar. Aber spätestens Ende 2016 werden wir sagen können, ob die neue Physik bei 750 Gigaelektronenvolt auftritt oder wir doch wieder woanders suchen müssen.“

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/bausteine/interview-peter-maettig/