„Speziell für die Suche nach extrem schwach wechselwirkenden Teilchen“
Dirk Eidemüller
Seit seiner Gründung vor 70 Jahren hat das Forschungszentrum CERN bei Genf bereits zahlreiche physikalische Entdeckungen ermöglicht. Nach wie vor entwickeln Forscherinnen und Forscher die Experimente weiter und arbeiten außerdem an neuen Möglichkeiten, um nach bislang unentdeckten Teilchen zu suchen. So könnte in Zukunft ein neuer Detektor die Suche nach extrem schwach wechselwirkenden Teilchen ermöglichen. SHiP, kurz für Search for Hidden Particles, würde sich dafür deutlich von den anderen großen Detektoren am CERN – wie zum Beispiel CMS oder ATLAS – unterscheiden. Außerdem würde der neue Detektor an einem der Vorbeschleuniger des Large Hadron Collider zum Einsatz kommen. Im Interview mit Welt der Physik spricht Heiko Lacker von der Humboldt-Universität Berlin über die physikalischen Hintergründe des Experiments und den aktuellen Stand des Vorhabens.
Welt der Physik: Wozu benötigt man am CERN einen weiteren Großdetektor?
Heiko Lacker: Es gibt bereits mehrere große Detektoren am CERN. Die beiden bekanntesten sind CMS und ATLAS. Sie stehen am Large Hadron Collider – kurz LHC, dem weltweit stärksten Teilchenbeschleuniger. Mit diesen beiden Detektoren gelang der Nachweis des Higgs-Bosons vor über zehn Jahren. Das war einerseits eine Jahrhundertentdeckung in der Teilchenphysik. Sollte es sich wirklich um das Higgs-Boson des Standardmodells handeln, was am LHC derzeit weiter untersucht wird, dann ist das Standardmodell eine komplette Theorie. Doch andererseits bleiben trotz der möglichen Komplettierung des Standardmodells viele Fragen unbeantwortet, wie: Warum haben Neutrinos eine Masse und warum ist ihre Masse so winzig? Warum gibt es im Universum fast nur Materie, aber quasi keine Antimaterie? Was ist die Natur der mysteriösen Dunklen Materie, die im Kosmos etwa fünfmal mehr Masse aufbringt als die uns bekannte, sichtbare Materie?
Wie lassen sich Antworten auf diese Fragen finden?
Wie letzten Endes die Antworten auf diese Fragen zu finden sein werden, wissen wir nicht. Daher verfolgen wir in der Elementarteilchenphysik unterschiedliche experimentelle Methoden, die komplementär zueinander sind. Das SHiP-Experiment ist ein solches, zu den Detektoren am LHC komplementäres Experiment. Der Detektor soll zudem nicht direkt am LHC gebaut werden, sondern an einem seiner Vorbeschleuniger, dem SPS. Er wird derzeit speziell dazu entwickelt, nach Teilchen zu suchen, die extrem schwach wechselwirken und zukünftig Antworten auf die noch offenen Fragen geben könnten.
Welche Teilchen sind denn extrem schwach wechselwirkend?
Eine wichtige Klasse von Teilchen, für die SHiP konzipiert ist, sind die sogenannten Majorana-Neutrinos. Der italienische Theoretiker Ettore Majorana hatte im Jahr 1937, kurz vor seinem rätselhaften Verschwinden, eine sehr interessante Hypothese aufgestellt: Es könnte bestimmte Teilchen geben, die zugleich ihre eigenen Antiteilchen sind. Bislang wurden solche, nach ihm benannten Partikel noch nicht beobachtet. Es gibt aber gute Argumente, warum ausgerechnet Neutrinos solche Majorana-Teilchen sein könnten.
Welche besonderen Eigenschaften haben überhaupt Neutrinos und was bedeutet das für Majorana-Neutrinos?
Neutrinos zählen zu den Elementarteilchen des Standardmodells. Die bekannten Neutrinos sind außergewöhnlich leicht – sie sind rund eine Million Mal leichter als andere Elementarteilchen wie etwa Elektronen. Sie tragen keine elektrische Ladung und treten nur über die sogenannte schwache Wechselwirkung mit anderer Materie in Kontakt. Diese Wechselwirkung ist so schwach, dass Neutrinos durch Planeten und Sterne hindurch fliegen können. Allerdings weiß man bislang noch nicht genau, wie die Masse der Neutrinos entsteht und warum sie so klein ist. In der Theorie könnten Majorana-Neutrinos diese Fragen klären. Deswegen wollen wir uns mit SHiP auf die Suche nach ihnen machen.
Und welche Eigenschaften würden Sie von den Majorana-Teilchen erwarten?
Falls es diese Teilchen gibt, die zugleich ihre eigenen Antiteilchen sind, dann gibt es vermutlich nicht nur eine Art von Majorana-Teilchen, sondern auch zwei, drei oder sogar mehr verschiedene Arten von Majorana-Neutrinos. Falls das der Fall wäre, könnte man so die Kleinheit der Neutrinomassen, die Materie-Antimaterie-Asymmetrie im Universum und möglicherweise sogar die Dunkle Materie erklären.
Und solche Teilchen lassen sich theoretisch mit ShiP nachweisen?
Wenn die Masse solcher Majorana-Neutrinos nicht allzu groß ist, dann kann ein Detektor wie SHiP sie finden. Hier kommt eine Besonderheit von SHiP ins Spiel: Die Majorana-Neutrinos sollten im Vergleich zu vielen anderen Teilchen, die in Teilchenbeschleunigern erzeugt werden, relativ langlebig sein. Zugleich kann man sie nicht direkt nachweisen, sondern nur über ihre Zerfallsprodukte. Da sie sich mit hoher Geschwindigkeit von ihrem Entstehungspunkt wegbewegen, benötigt man also eine längere Flugstrecke, die vom SHiP-Detektor umschlossen wird. Darin unterscheidet sich SHiP von den bestehenden Detektoren am LHC. Außerdem wird er ja an einem Vorbeschleuniger gebaut.
Welche Vorteile bringt das?
Die Protonen, die der SPS liefert, haben zwar eine deutlich geringere Energie als die Protonen, die im LHC beschleunigt werden. Aber dafür kann man den Protonenstrahl des SPS, der viel mehr Protonen enthält als der LHC, einfach in einen Materieblock schießen. Dabei entsteht eine riesige Anzahl an hochenergetischen Teilchen – und mit etwas Glück auch hin und wieder ein Majorana-Neutrino oder ein anderes exotisches Teilchen, das zum Beispiel zur Dunklen Materie gehören könnte. Aus diesem Teilchenstrahl kann man nun die bekannten Teilchen wie Elektronen, Protonen und Photonen absorbieren und die Myonen mithilfe starker Magnetfelder ablenken. Geradeaus fliegen dann nur noch ungeladene Teilchen wie die uns bereits bekannten Neutrinos – und eventuell auch die gesuchten Majorana-Neutrinos.
Wie würden sich diese nachweisen lassen?
Majorana-Neutrinos sind nicht stabil, sondern können der Theorie zufolge in bekannte Teilchen zerfallen. Wenn also entlang der Wegstrecke im Detektor auf einmal quasi aus dem Nichts ein Teilchenpaar auftaucht, dann könnte dieses das Zerfallsprodukt eines Majorana-Neutrinos sein. Aber das lässt sich nur durch ausgeklügelte statistische Methoden und mithilfe jahrelanger Messungen bestimmen. Es ist auch durchaus denkbar, dass SHiP keine Majorana-Neutrinos, sondern andere exotische Teilchen findet.
Welche könnten das sein?
Es gibt eine ganze Reihe von Kandidaten, die von theoretischer Seite vorgeschlagen wurden. Dazu gehören die sogenannten Axionen oder Axion-ähnlichen Partikel. Dann könnte es das Dunkle Photon geben – ein schwergewichtiges Geschwisterteilchen der Photonen, also der Lichtteilchen. Aber auch bislang unbekannte Geschwister des Higgs-Bosons sind denkbar. Nach solchen Teilchen wird auch bereits gesucht. Aber SHiP würde hierzu einzigartige Möglichkeiten bieten, die andere Experimente nicht aufweisen können.
Was ist der aktuelle Stand der Planung?
Im Augenblick sind wir noch bei der Projektierung. Dieses Jahr hat CERN das SHiP-Projekt als ein zukünftiges Flaggschiff-Experiment für den SPS selektiert. Dazu müssen die beteiligten Länder noch Finanzierungsfragen klären. In drei Jahren soll der technische Design-Report stehen, sodass das Experiment etwa im Jahr 2031 fertiggestellt sein könnte. Dann würde die Datennahme starten, die auf rund 15 Jahre angelegt ist. An diesen Zeiträumen sieht man schon, dass die Grundlagenforschung in der Teilchenphysik einen langen Atem braucht.
Wenn Sie Videos von YouTube anschauen, werden Daten an YouTube in die USA übermittelt.
Weitere Informationen erhalten Sie auf unserer Datenschutzseite.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/bausteine/neutrinos/cern-speziell-fuer-die-suche-nach-extrem-schwach-wechselwirkenden-teilchen/