Forschung mit dem ILC

Elektron-Positron-Kollision

Der Internationale Linearcollider ILC wird einmalige Chancen eröffnen, zentrale naturwissenschaftliche Fragen des 21. Jahrhunderts zur Natur von Materie, Energie, Raum und Zeit sowie zur Dunklen Materie, Dunklen Energie und Existenz von Extra-Dimensionen zu untersuchen.

Mit dem künftigen Linearcollider ILC können Teilchenphysiker genau verfolgen, was am Anfang des Universums vor 15 Milliarden Jahren geschah. Die supraleitenden Beschleunigungsstrecken sollen Elektronen und Positronen auf Rekordenergien von jeweils 250 bis circa 500 Milliarden Elektronenvolt bringen. In der Mitte ihrer Rennstrecke prallen die Teilchen dann aufeinander. Teilchen und Antiteilchen vernichten sich zu einem winzigen „Feuerball“ aus Energie – so konzentriert wie in der ersten billionstel Sekunde nach dem Urknall. Daraus entstehen spontan verschiedenste Elementarteilchen – auch heiß gesuchte, so die Hoffnung der Physiker, wie das „Higgs“- oder die „SUSY“- Teilchen.

Higgs-Teilchen

Es gibt einen gewichtigen Grund, nach den bislang unentdeckten Higgs-Teilchen zu fahnden: Ohne Higgs wären wir masselos. Nach unserer heutigen Vorstellung verleiht ein von dem Physiker Peter Higgs erdachtes Prinzip den ursprünglich masselosen Teilchen ihr Gewicht. Demnach ist das gesamte Universum von einem Higgs-Feld durchdrungen und je stärker ein Teilchen mit diesem Feld wechselwirkt, desto größer ist seine Masse. Gibt es das Higgs-Feld, sollte es sich durch mit ihm verbundene Higgs-Teilchen verraten.

Computergrafik, auf der mehrere Spuren von Teilchen vom Mittelpunkt des Bildes aus nach außen verlaufen.

Simulation: Spuren eines Higgs-Teilchens

Die Suche nach dem Higgs-Teilchen läuft – bislang ohne Erfolg. Seine Masse muss sehr groß sein, mehr als hundert Milliarden Elektronenvolt. Sonst wäre das Teilchen an bestehenden Beschleunigern bereits entdeckt worden. Andererseits zeigen heutige Ergebnisse und theoretische Überlegungen, dass die Higgs-Masse unter 300 Milliarden Elektronenvolt liegen muss. Damit ist das Higgs-Teilchen möglicherweise in Reichweite des Tevatron-Beschleunigers bei Fermilab nahe Chicago – sicherlich aber des derzeit leistungsstärksten Beschleunigers der Welt, des Proton-Proton-Colliders LHC bei CERN in Genf.

Die Entdeckung des Higgs-Teilchens wäre eine Sensation, doch um den Mechanismus, der die Masse macht, wirklich aufzuklären, müssen die Eigenschaften des Higgs-Teilchens genau untersucht werden. Das ist die Stärke eines Elektron-Positron-Linearcolliders wie dem ILC. Dank seiner hohen „Trefferrate“, also der Anzahl miteinander kollidierender Teilchen, ist er eine wahre „Higgs-Fabrik“ und erlaubt Präzisionsmessungen, die es ermöglichen, die Rolle der Higgs-Teilchen in der Natur genau zu verstehen – oder eine alternative Erklärung für die Teilchenmassen zu finden.

Supersymmetrie

„Weniger ist mehr“, lautet die Devise der Teilchenphysiker, die bestrebt sind, die Welt mit möglichst wenigen elementaren Bausteinen zu erklären. Doch für SUSY scheinen sie eine Ausnahme zu machen: Die Theorie der Supersymmetrie verdoppelt die Anzahl der Elementarteilchen, weil jedes „normale“ Teilchen einen supersymmetrischen Partner bekommt. Das Erstaunliche: Dadurch wird die Erklärung der Welt einfacher.

Die Grafik zeigt auf der linken Seite die 17 Standard-Teilchen als farbige Kugeln (die Quarks, Leptonen, Kraftteilchen sowie das Higgs-Teilchen), auf der rechten Seite die entsprechenden 17 supersymmetrischen Partnerteilchen (Squarks, Sleptonen, SUSY-Kraftteilchen und das Higgsino).

Supersymmetrische Teilchen

Nach der gängigen Theorie der Teilchenphysik besteht unsere Welt aus Materie- und Kraftteilchen, die sich sehr unterschiedlich verhalten. Aber warum diese Unterschiede? Der Supersymmetrie zufolge gibt es zu allen Materieteilchen Partner, die sich wie Kraftteilchen verhalten und umgekehrt. Die starre Unterscheidung zwischen Materie und physikalischen Kräften wäre damit beseitigt, die Beschreibung der Natur einfacher geworden.

Das große Ziel der Teilchenphysik ist es, eine einheitliche Beschreibung aller Kräfte zu finden. Mit der Supersymmetrie lassen sich drei der fundamentalen Naturkräfte zu einer einzigen vereinen: die elektromagnetische, die schwache und die starke Kraft. Nur wenn die Physiker SUSY-Teilchen in ihre Berechnungen einbeziehen, werden die drei Kräfte bei unvorstellbar hohen Energien genau gleich stark – Energien, die milliardenfach höher sind als die, die an heutigen Beschleunigern erreicht werden.

Bisher wurden keine supersymmetrischen Teilchen entdeckt. Vieles deutet aber darauf hin, dass sie existieren. Den leichtesten SUSY-Teilchen dürften Beschleuniger wie der LHC bei CERN und der internationale Linearcollider ILC auf die Spur kommen. Das große Plus von Elektron-Positron-Kollisionen gegenüber Proton-Proton-Zusammenstößen: Mit ihrer Hilfe ließen sich solche Teilchen nicht nur aufspüren, sondern auch präzise vermessen – und nur so lässt sich die Struktur der Supersymmetrie auch verstehen.

Superstrings

Exotische Begriffe wie Superstrings und Extra-Dimensionen entspringen dem Versuch der Teilchenphysiker, die Vertrauteste aller Naturkräfte zu verstehen: die Schwerkraft. Sie lässt sich zwar dank Albert Einstein im kosmischen Maßstab hervorragend beschreiben, verträgt sich jedoch gar nicht mit den gängigen Theorien des Mikrokosmos. Abhilfe schafft die Superstringtheorie: Sie vereinheitlicht die Beschreibung aller Teilchen und aller Naturkräfte, einschließlich der Schwerkraft. Sie sagt ein Teilchen voraus, das genau die Eigenschaften des Gravitons besitzt – dem noch unentdeckten Austauschteilchen der Schwerkraft.

Grafische Darstellung des Prinzips der Extra-Dimensionen. Den ersten Teil der Grafik stellt eine flache Ebene mit einer Person, einer Sonne und einer Stadt unser Universum dar, das in weiteren Dimensionen eingebettet ist. Von der Ebene ausgehend breiten sich rote Schlangenlinien in alle Richtungen aus. Im zweiten Teil der Grafik ist unser Universum als schwarze Gerade entlang eines Zylindermantels dargestellt. Mehrere rote Schlangenlinien breiten sich von dieser schwarzen Geraden ausgehend über den gesamten Zylindermantel aus.

Unser Universum als Membran in den Extra-Dimensionen

Für die Superstringtheorie räumen die im herkömmlichen Weltbild der Teilchenphysik als punktförmig angenommenen Elementarteilchen ihren Platz als Grundbausteine der Materie. Es gibt nur noch einen elementaren Baustein – den Superstring. Wie Töne durch eine schwingende Saite, ergeben sich die verschiedenen Teilchen – Elektronen, Quarks, Photonen, Gluonen und so weiter – durch verschiedene Schwingungszustände eines elementaren Superstrings.

Superstrings können nicht in unseren vier Dimensionen – den drei Raumrichtungen und der Zeit – existieren. Sie brauchen zehn oder sogar elf Dimensionen. Aber wie können diese Extra-Dimensionen allen heute verfügbaren Messapparaturen verborgen bleiben? Die einzige Erklärung: Sie müssen winzig klein zusammengerollt sein.

Die Superstringtheorie sagt auch voraus, dass die Welt supersymmetrisch ist – ein weiterer Anlass für die besondere Spannung, mit der die Physiker auf die Entdeckung von SUSY-Teilchen warten. Ein Elektron-Positron-Beschleuniger wie der internationale Linearcollider ILC könnte supersymmetrische Teilchen produzieren und genau analysieren – und damit den Weg weisen zu dieser allumfassenden Theorie, die alle fundamentalen Kräfte und Teilchen zusammenfügt.

Urknall, Dunkle Materie und Dunkle Energie

Grafische Darstellung der Entwicklung der Naturkräfte vom Urknall bis heute. Die einzelnen Kräfte sind als waagerechte Linien dargestellt, die sich im Lauf der Zeit aufspalten. Eine Skala darüber gibt an, zu welcher Ausdehnung des Universums sich dies ereignet hat. Kurz nach dem Urknall spaltet sich die Ursprungskraft auf in die Gravitation sowie eine weitere Kraft, die sich später wiederum in die starke Kraft und die elektroschwache Kraft aufspaltet. Aus der elektroschwachen Kraft entstehen schließlich die elektromagnetische und die schwache Kraft

Die Vereinigung der Naturkräfte

Vor 15 Milliarden Jahren entstand das Universum mit einem gewaltigen Knall – dem Urknall. Ein winziger Raumzeitbereich, gigantisch heiß und energiegeladen, explodierte in weniger als einer billionstel Sekunde. Aus der geballten Energie entstanden Materie und Antimaterie, Atome, Moleküle, Mäuse und Menschen.

Mit dem internationalen Linearcollider ILC können Teilchenphysiker verfolgen, was Sekundenbruchteile nach dem Urknall geschah. Denn stoßen Elektron und Positron frontal zusammen, so können sie sich als Teilchen und Antiteilchen gegenseitig zu reiner Energie vernichten. Die Energiekonzentration ist so hoch wie in der ersten billionstel Sekunde nach dem Beginn des Universums. Wie im Urknall entstehen aus dieser Energie spontan verschiedene Elementarteilchen. So können die Physiker die Anfänge des Kosmos simulieren und in allen Einzelheiten im Experiment untersuchen.

Wie astronomische Beobachtungen zeigen, ist nur ein Bruchteil der Masse im Universum tatsächlich sichtbar. Der Rest besteht zum Teil aus Dunkler Materie: einer unsichtbaren Art von Materie, die ganz anders beschaffen zu sein scheint als die, aus der Sterne, Planeten und Menschen gebildet sind. Noch mysteriöser ist die Dunkle Energie, die neuesten Beobachtungen zufolge den weitaus größten Teil des Universums beherrscht. Bisher weiß niemand, was Dunkle Materie und Dunkle Energie wirklich sind. Beide sind jedoch extrem wichtig für das Verständnis des Universums. Eine denkbare Erklärung – zumindest für die dunkle Materie – wären supersymmetrische Teilchen. Mit einem Elektron-Positron-Linarcollider wie dem ILC könnte man solche Teilchen finden und untersuchen.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/experimente/teilchenbeschleuniger/ilc/ilc-forschung/