„Ein wichtiger Schritt hin zu einer Kernuhr“
Dirk Eidemüller
Atomuhren gelten derzeit als die präzisesten Instrumente, mit denen sich Zeit messen lässt. In Zukunft könnten aber sogenannte Kernuhren – die Anregungen des Atomkerns anstatt der Atomhülle nutzen – noch wesentlich höhere Genauigkeiten erreichen. Einen wichtigen Meilenstein für die Entwicklung einer solchen Kernuhr wurde nun erreicht: Mit dem Röntgenlaser European XFEL haben Physikerinnen und Physiker einen speziellen Übergang im Atomkern des Elements Scandium mit bislang unerreichter Genauigkeit vermessen. Im Interview mit Welt der Physik spricht Ralf Röhlsberger vom Forschungszentrum DESY in Hamburg und dem Helmholtz-Institut Jena über die Experimente und was sie für die Entwicklung von Kernuhren bedeuten.
Welt der Physik: Was ist der Unterschied zwischen einer Atomuhr und einer Kernuhr?
Ralf Röhlsberger: Der heutige Goldstandard bei der Zeitmessung sind sogenannte Atomuhren. Hier wird ein Übergang in der Elektronenhülle eines bestimmten Elements angeregt. Das geschieht typischerweise mit Mikrowellen. Mittlerweile gibt es auch Atomuhren, die mit sichtbarem Licht arbeiten und die sogar noch genauer sind als mikrowellenbasierte Atomuhren. Diese Instrumente liefern bereits eine außerordentlich hohe Gangtreue. Cäsium-Atomuhren gehen etwa nur eine Sekunde in 300 Millionen Jahren falsch. Bei einer Kernuhr dagegen regt man nun nicht die Elektronen in der Hülle, sondern den Atomkern selbst an. Diese Anregungen benötigen oftmals wesentlich höherenergetische Strahlung im Bereich von Röntgenwellenlängen und funktionieren nur, wenn man die richtige Frequenz sehr genau trifft. Deshalb bieten sie eine nochmals deutlich höhere Gangtreue als Atomuhren.
Was haben Sie nun untersucht?
Atomkerne haben – genau wie die Elektronenhülle – eine Vielzahl an möglichen Anregungen. Die meisten Kernanregungen sind sehr hochenergetisch und liegen im Bereich von Gammastrahlung. Damit lässt sich keine Uhr bauen. Wir haben nun einen speziellen Kernübergang des Elements Scandium untersucht. Dieser Übergang gilt als besonders geeignet für eine Kernuhr, weil er sich mit einem Röntgenlaser anregen lässt – in unserem Fall mit dem Freie-Elektronen-Laser European XFEL. Wir haben für unser Experiment den Strahl des XFEL auf eine rund 25 Mikrometer dünne Metallfolie aus Scandium gelenkt. Bei einer Energie von knapp 12,4 Kiloelektronenvolt zeigte sich der für uns interessante Kernübergang, also bei einer 10 000 Mal höheren Energie als die von sichtbarem Licht. Wir haben die Energie des Übergangs sehr genau vermessen, auf fünf Nachkommastellen. Das ist rund 250-fach präziser als bisherige Bestimmungen. Damit wird es nun theoretisch möglich sein, Präzisionsspektroskopie an diesem Übergang zu machen. Allerdings müssen die passenden Instrumente dafür noch entwickelt werden.
Wie genau haben Sie den Kernübergang untersucht?
Die meisten Kernübergänge strahlen die aufgenommene Energie sehr schnell – in Sekundenbruchteilen – wieder ab. Der von uns untersuchte Übergang von Scandium hat dagegen eine außergewöhnlich lange Lebensdauer von fast einer halben Sekunde. Dank dieser hohen Lebensdauer war es möglich, dass wir nach der Anregung des Kernübergangs mit dem Röntgenlaser die Probe rund einen Zentimeter weit aus dem Laserstrahl herausfahren konnten. Das reduziert Störsignale bei der Messung erheblich. Danach haben wir das charakteristische, schwache Nachleuchten, das von dem angeregten Atomkern im Röntgenbereich ausgesendet wird, vermessen. Das Ganze war nur möglich dank der enormen Leistungsstärke des Hamburger Röntgenlasers – sonst wäre das Nachleuchten viel zu schwach gewesen.
Welche Präzision sollen Kernuhren eines Tages erreichen?
Im Prinzip sollte eine auf Scandium basierende Kernuhr rund tausendfach genauer laufen können als die Cäsium-Atomuhren, wie sie heute unter anderem zur Satellitennavigation eingesetzt werden. Die Gangtreue hängt direkt von der energetischen Breite der Anregungsniveaus ab – also wie genau man die Anregungsfrequenz treffen muss, damit der Zustand überhaupt angeregt wird. Bei Scandium ist der für eine Kernuhr interessante Übergang extrem scharf. Seine Breite entspricht nur einem zehntel Trilliardstel der Anregungsenergie. Eine Scandium-Kernuhr würde also nur eine Sekunde pro 300 Milliarden Jahren falsch laufen.
Gibt es noch andere Kandidaten für eine Kernuhr?
Vor allem zwei Elemente besitzen Kernübergänge, die für den Bau einer Uhr interessant sind. Neben Scandium gilt Thorium als mögliches Element, weil es einen besonders niederenergetischen Kernübergang besitzt. Daran wird ebenfalls international geforscht. Sowohl beim Scandium als auch beim Thorium gilt aber: Wir werden noch einige Jahre Entwicklungsarbeit benötigen, bevor man an eine Kernuhr denken kann. Im Augenblick geht es darum, die Anregungen besser zu verstehen. Dann muss man herausfinden, wie man eine Kernuhr am geschicktesten entwirft. Wir machen gerade die ersten Schritte, und noch viele weitere Schritte müssen folgen.
Welche Anwendungen kommen für Kernuhren in Betracht?
Auf Satelliten wird man sie nicht so bald sehen. Dafür sind die notwendigen Apparaturen viel zu groß. Aber für fundamentale Fragestellungen in der Physik sind hochpräzise Uhren immer ein Gewinn. So gibt es die Hoffnung, mit Kernuhren ganz neue Bereiche für die Ultrapräzisions-Metrologie zu erschließen. Damit könnte man unter anderem die Frage untersuchen, ob die Naturkonstanten wirklich so konstant sind, wie man allgemein annimmt. Auch die Einstein‘sche Relativitätstheorie ließe sich damit noch besser überprüfen. Wir sind auf jeden Fall stolz, jetzt einen wichtigen ersten Schritt hin zu einer Scandium-Kernuhr gemacht zu haben. Dieser Übergang ist seit rund 30 Jahren schon auf dem Radar der Forschungsgemeinde, und die neuen Messungen sind für die weitere Entwicklung sehr wichtig.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/hadronen-und-kernphysik/european-xfel-ein-wichtiger-schritt-hin-zu-einer-kernuhr/