„Man kann Neutronen nicht einfach zusammenfügen“
Dirk Eidemüller
Alle Atome, aus denen sich die uns bekannte Materie zusammensetzt, bestehen aus einem Atomkern und einer Atomhülle aus Elektronen. Die Atomkerne wiederum bestehen aus positiv geladenen Protonen und neutralen Neutronen, die über die starke Wechselwirkung zusammengehalten werden. So gibt es stabile Atomkerne, die sich in der Regel aus einer vergleichbaren Anzahl von Neutronen und Protonen zusammensetzen. Aber es lassen sich auch instabile Atomkerne beobachten, die nach kurzen Zeitspannen zerfallen und verschiedene Theorien sagen sogar auch instabile Kernmaterie voraus, die nur aus Neutronen besteht. Nach sechzigjähriger Suche haben Forscher nun erstmals ein solches Teilchen aus vier Neutronen beobachtet – ein sogenanntes Tetraneutron. Wie das möglich war, berichtet Thomas Aumann von der Technischen Universität Darmstadt im Interview mit Welt der Physik.
Welt der Physik: Warum ist so schwer, Systeme aus mehreren Neutronen zu erzeugen?
Thomas Aumann: Neutronen sind genauso wie Protonen sogenannte Nukleonen. Das sind diejenigen Teilchen, aus denen die Atomkerne bestehen und die der starken Kernkraft unterliegen. Diese Kraft ist zwar enorm stark, bindet aber vornehmlich Protonen und Neutronen in halbwegs symmetrischer Anzahl aneinander – das sind die Atomkerne der Elemente des Periodensystems. Systeme, die nur aus mehreren Protonen oder nur aus mehreren Neutronen bestehen, können bestenfalls als sehr kurzlebiger, instabiler Zustand existieren. Und schon allein die theoretische Behandlung von reinen Neutronensystemen ist ziemlich schwierig. Es gibt verschiedene Theorien dazu, ob Tetraneutronen überhaupt existieren können und welche Eigenschaften sie besitzen. Das Dineutron, also ein System aus zwei Neutronen, wurde bereits durch mehrere Experimente untersucht. Daraus ließ sich die Neutron-Neutron-Wechselwirkung bestimmen.
Wie haben Sie es dennoch geschafft, solche Tetraneutronen jetzt erstmals nachzuweisen?
Das große Problem bei der Erzeugung von Systemen aus mehreren Neutronen besteht darin, dass man Neutronen nicht einfach zusammenfügen kann. Als ungeladene Teilchen lassen sich Neutronen auch sehr viel schlechter kontrollieren als etwa Elektronen, Protonen oder Atomkerne. Die zündende Idee bei unserem neuen Experiment war es deshalb, einen sehr neutronenreichen, leichten Atomkern zu nehmen und aus diesem die positiv geladenen Protonen herauszuschießen, sodass am Ende nur noch vier Neutronen übrigbleiben. Das Ganze musste sehr schnell geschehen, damit die Protonen oder überzähligen Neutronen das Ergebnis nicht verfälschen können.
Wie ließ sich das bewerkstelligen?
Wir haben die Experimente mit dem Atomkern des Heliumisotops Helium-8 durchgeführt. Das ist ein ungewöhnlich neutronenreicher Heliumkern, der aus zwei Protonen und sechs Neutronen besteht. Im Gegensatz zu normalem Helium, das aus je zwei Protonen und Neutronen aufgebaut ist, ist Helium-8 nicht stabil, sondern zerfällt bereits nach einigen Millisekunden. Diesen Atomkern haben wir dann auf ein Ziel aus Wasserstoff geschossen. Wenn das Helium-8 auf die Protonen aus dem Wasserstoff knallt, kann es passieren, dass ein normaler Heliumkern aus zwei Protonen und Neutronen aus dem Helium-8 herausgeschlagen wird. Das liegt daran, dass bei Helium-8 die vier zusätzlichen Neutronen wie ein Halo um den Atomkern angeordnet und nicht so stark an ihn gebunden sind. Wenn der zentrale Kern herausgeschlagen ist, bleiben die vier Neutronen als Tetraneutron noch für sehr kurze Zeit aneinandergebunden.
An welcher Anlage lassen sich solche Experimente durchführen?
Es gibt weltweit nur wenige Teilchenbeschleuniger, die den gewünschten Strahl mit den passenden Eigenschaften bereitstellen können. Dieses Experiment haben wir am Riken Nishina Center in Japan durchgeführt. Das ist derzeit die führende Anlage für hochenergetische Strahlen aus kurzlebigen Isotopen. Wir hatten einen Strahl mit rund einer Million Teilchen pro Sekunde. Dabei fliegen die Helium-8-Isotope mit rund zehn Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Das kommt uns zugute, weil dadurch der zentrale Heliumkern aus dem Helium-8 sehr schnell herausgeschossen wird, so dass die vier verbleibenden Neutronen praktisch ungestört miteinander wechselwirken können. In Zukunft werden solche Experimente aber auch in Darmstadt möglich sein, wenn der neue Teilchenbeschleuniger FAIR fertiggebaut ist.
Welche Eigenschaften haben die von Ihnen beobachteten Tetraneutronen?
Der Zustand ist hochgradig instabil. Die Kern- und Teilchenphysiker sprechen deshalb auch von einer Resonanz. Ein solcher Zustand liegt nur für weniger als eine billionstel milliardstel Sekunde vor. Aber allein daraus, dass er existiert, lassen sich bereits Rückschlüsse über Kernmodelle ziehen. Denn die Wechselwirkungen zwischen mehreren Neutronen sind ein wichtiger Bestandteil der heutigen kernphysikalischen Theorien. Tetraneutronen geben uns endlich die Möglichkeit, das auch experimentell zu überprüfen.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/hadronen-und-kernphysik/teilchen-man-kann-neutronen-nicht-einfach-zusammenfuegen/