„Wir gehen an die Grenzen der Nuklidkarte“
Dirk Eidemüller
Alle bekannten Atomkerne und ihre Eigenschaften sind in der sogenannten Nuklidkarte verzeichnet. Dazu zählt etwa die Stabilität eines Atomkerns, die von Protonen- und Neutronenanzahl abhängt. Abseits dieser Stabilitätslinie sind Kerne meist instabil – sie können also radioaktiv zerfallen. Mit neuen theoretischen Methoden haben Physiker diese Eigenschaften nun von fast 700 verschiedenen Atomkernen vorhergesagt und überprüft, ob sie existieren können. Im Interview mit Welt der Physik berichtet Achim Schwenk von der Technischen Universität Darmstadt, wie sich daraus sogar auf die Größe von Neutronensternen rückschließen lassen könnte.
Welt der Physik: Mit welchen Eigenschaften von Atomkernen haben Sie sich beschäftigt?
Achim Schwenk: In unserer jüngsten Publikation haben wir ermittelt, welche Atomkerne sich überhaupt bilden können. Denn abgesehen von den stabilen Atomkernen gibt es ja noch eine Vielzahl instabiler, also radioaktiver Atomkerne. Diese können zum Teil sehr langlebig sein, viele sind aber auch sehr kurzlebig.
Wodurch unterscheiden sich instabile und stabile Atomkerne?
Bei den stabilen Atomkernen ist das Verhältnis von Protonen zu Neutronen ungefähr ausgeglichen. Wenn nun zusätzliche Protonen oder Neutronen auf den Kern treffen, wird der Kern irgendwann instabil. Ab einem bestimmten Punkt kann er gar keine zusätzlichen Protonen oder Neutronen mehr an sich binden, sondern lässt diese sozusagen von sich „abtropfen“. Daher stammt auch die Bezeichnung „Dripline“, mit der man die Grenze von gebundenen Kernzuständen in der Nuklidkarte bezeichnet. Um diese Eigenschaften besser vorhersagen zu können, haben wir jetzt die leichteren Atomkerne von Wasserstoff bis Eisen berechnet – insgesamt 700 verschiedene Isotope mit unterschiedlichen Protonen- und Neutronenzahlen.
Was ist das Besondere an Ihren Berechnungen?
Noch vor zehn Jahren wären unsere Berechnungen nur für die allerleichtesten Elemente möglich gewesen. Seitdem haben wir aber viel bessere theoretische Werkzeuge. Denn wir können die starke Wechselwirkung, die zwischen den Protonen und Neutronen wirkt, mittlerweile sehr viel besser theoretisch beschreiben als früher. Ausgehend von den Interaktionen zwischen jeweils zwei oder drei Teilchen lässt sich so die Stabilität eines Atomkerns aus Dutzenden von Protonen und Neutronen mithilfe einer effektiven Theorie berechnen. Mit zunehmender Größe des Atomkerns werden die Berechnungen zwar immer schwieriger, aber das haben wir inzwischen deutlich besser im Griff.
Lassen sich Ihre theoretischen Ergebnisse auch experimentell überprüfen?
In der Natur kommen solche Isotope mit einem so hohen Anteil an Protonen oder Neutronen praktisch nicht vor. Man kann sie auch kaum über Neutroneneinfang erzeugen. Denn bis ein Kern so viele Neutronen eingefangen hat, ist er schon längst wieder radioaktiv zerfallen. Stattdessen lassen sich solche exotischen Atomkerne durch den Beschuss von schweren, neutronenreichen Kernen mit hochenergetischen Teilchen erzeugen. Dadurch zersplittern die Kerne und die dabei freigesetzten exotischen Atomkerne lassen sich dann in einem Detektor untersuchen.
Und was hat der Vergleich mit den experimentellen Daten bislang ergeben?
Indem wir die Theorie an den Grenzfällen zur Existenz testen, können wir rückschließen, wie gut unsere Theorie ist. Bei den leichten Elementen bis hin zu Eisen sind die theoretischen Berechnungen der Grenzen der Nuklidkarte schon sehr gut. Und wo experimentelle Daten fehlen, können wir den Kolleginnen und Kollegen nun Hinweise geben, wonach es sich zu suchen lohnt. In Zukunft wollen wir aber auch die schwereren Elemente theoretisch untersuchen. Das ist insbesondere für die Astrophysik sehr interessant. Denn Kenntnisse über die Nuklidkarte spielen nicht nur für die Elemententstehung eine Rolle, sondern auch für das Verständnis von Neutronensternen.
Warum ist das für die Elemententstehung wichtig?
Leichtere Elemente bis hin zum Eisen entstehen durch Fusionsprozesse im Innern von Sternen. Schwere Elemente wie Gold, Platin oder Uran stammen aber aus Supernovae – also aus der Explosion von Sternen – oder von den Kollisionen von Neutronensternen. Denn dort fliegen unzählige Neutronen umher, die sich rasend schnell an Atomkernen anlagern. Durch abwechselnden radioaktiven Betazerfall und Neutroneneinfang sammeln die Atomkerne in der Umgebung solcher Ereignisse immer mehr Neutronen ein. Dabei verwandelt sich ein Neutron jeweils in ein Proton, wodurch sich das Verhältnis von Protonen und Neutronen wieder ausgleicht und der Kern stabiler wird. Je besser man nun die Stabilitätsgrenzen von Atomkernen kennt, desto besser lässt sich dieser gesamte Prozess modellieren.
Und welche Rolle spielt das für Neutronensterne?
Mithilfe der neuen theoretischen Modelle können wir das Verhalten neutronenreicher Materie besser verstehen – sowohl von stark neutronenhaltigen Kernen als auch von extrem neutronenreichen Materieformen wie sie in Neutronensternen vorkommen. Daraus lässt sich beispielsweise der Radius von Neutronensternen einschränken. Denn je nachdem, wie gut sich die Neutronen zusammenpacken lassen, sollten Neutronensterne etwas größer oder kleiner sein.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/hadronen-und-kernphysik/wir-gehen-an-die-grenzen-der-nuklidkarte/