Quantenweg ins thermische Gleichgewicht
Rainer Scharf
Wenn ein aus vielen Teilchen bestehendes Objekt sich selbst überlassen ist, geht es ins thermische Gleichgewicht über, bei dem alle makroskopischen Prozesse zum Stillstand kommen. Entfernt man beispielsweise eine Trennwand in einem Gefäß mit einer leeren und einer gasgefüllten Hälfte, so breitet sich das Gas sofort im ganzen Gefäß aus. Unter den gegebenen Randbedingungen wird die Entropie des Systems maximal.
Schon in der klassischen Physik ist der irreversible, also unumkehrbare Übergang ins thermische Gleichgewicht problematisch, da die molekularen Bewegungen durchaus umkehrbar sind. Doch schon kleine Nichtlinearitäten in den Bewegungsgleichungen führen zu chaotischen Bewegungen, sodass selbst Systeme aus wenigen Teilchen sich völlig unvorhersehbar entwickeln. Die dabei durchlaufenen „Mikrozustände“ sind gleichmäßig über die Gesamtheit aller Zustände verteilt, deren Energie mit derjenigen des Systems übereinstimmt. Das System befindet sich dann im thermodynamischen Gleichgewicht.
Mit der Quantenphysik kommen neue Probleme hinzu, da sich Quantensysteme gemäß der linearen Schrödinger-Gleichung entwickeln. Allerdings kann man mit linearen Gleichungen nichtlineare, chaotische Bewegungen für beliebig lange Zeit nachbilden. Außerdem ist die Zahl der Zustände eines Quantensystems aus ein paar Dutzend Teilchen wegen der quantenmechanischen Verschränkung sehr groß, sodass sich eine riesige Zahl von Zuständen durch einfache Messungen nicht voneinander unterscheiden lässt. Kommt ein System in einen dieser Zustände, hat es sein Gleichgewicht erreicht.
Jetzt haben Markus Greiner und seine Mitarbeiter von der Harvard University in den USA an einem isolierten Quantensystem aus wenigen Atomen untersucht, wie der Übergang ins thermische Gleichgewicht vonstatten geht und ihre Ergebnisse im Fachblatt „Science“ vorgestellt. Für die Studie haben die Forscher ein Bose-Einstein-Kondensat von Rubidium-87-Atomen hergestellt, die so auf die Plätze eines quadratischen Lichtgitters verteilt wurden, dass auf jedem Gitterplatz genau ein Atom festsaß. Die Atome bildeten einen sogenannten Mott-Isolator.
Dann wählten die Forscher zwei nebeneinander liegende Reihen von je sechs Atomen aus und änderten das Lichtgitter plötzlich, sodass die Atome in jeder Reihe zwischen benachbarten Gitterplätzen quantenmechanisch tunneln konnten. Wenn dadurch zwei oder mehr Atome auf denselben Platz gelangten, erhöhte sich die Energie aufgrund der gegenseitigen Abstoßung der Atome. So entstanden zwei Kopien einer sogenannten Bose-Hubbard-Kette.
Dadurch dass die Atome plötzlich tunneln konnten, war der ursprüngliche Isolatorzustand aus gleichmäßig über die Kette verteilten und nichtverschränkten Atomen kein Eigenzustand der Bose-Hubbard-Kette mehr. Die Kette war deshalb nicht im Gleichgewicht und entwickelte sich nun so, dass sich die Atome bewegten und in einen verschränkten Zustand gerieten. Die Frage war nun, ob die Atome so ins thermodynamische Gleichgewicht gelangen konnten.
Dagegen sprach, dass die Atome in jeder Kette stets in einem reinen Quantenzustand blieben, während sie bei Erreichen des thermodynamischen Gleichgewichts in einem gemischten Quantenzustand hätten sein müssen. Die Forscher prüften dies nach, indem sie das Lichtgitter so veränderten, dass die Atome nun zwischen den beiden Reihen tunneln konnten, wodurch die beiden Kopien miteinander interferierten. Aus der sich dabei ergebenden atomaren Besetzung der zwölf Gitterplätze schlossen sie, dass die beiden Ketten tatsächlich stets in einem reinen Zustand geblieben waren.
Als die Forscher aber wieder mit den beiden voneinander isolierten Ketten experimentierten und deren atomare Besetzung untersuchten, stellten sie fest, dass diese offenbar doch einem Zustand zustrebten, der dem thermodynamischen Gleichgewichtszustand zum Verwechseln ähnlich sah. So waren die Atome, 16 Millisekunden nachdem die Kette aus dem Gleichgewicht gebracht worden war, statistisch so auf die Plätze verteilt, wie es einer thermischen Verteilung entsprach.
Dem gingen die Forscher mit einem weiteren Interferenzexperiment nach, bei dem sie für unterschiedlich lange Teilstücke der Kette die zeitliche Entwicklung der sogenannten Verschränkungsentropie ermittelten. War das Teilstück in einem reinen Quantenzustand und somit völlig geordnet, so musste die Entropie gleich Null sein. War das Teilstück hingegen in einem verschränkten Zustand, so sollte die Entropie deutlich größer als Null sein, je nach dem Grad der Verschränkung. Während die ermittelte Entropie für die gesamte Kette über 20 Millisekunden hinweg nahezu Null war, stieg sie für ein bis drei Plätze lange Ketten nach wenigen Millisekunden auf einen positiven Wert, um den sie dann schwankte.
Demnach verloren die Teilstücke der Kette durch Kopplung an den Kettenrest ihr lokales Gedächtnis an den Anfangszustand. Sie strebten zu einem gemischten Gleichgewichtszustand. Die ganze Kette blieb jedoch in einem reinen Zustand und verlor ihr Zustandsgedächtnis nicht. Mit bestimmten sogenannten lokalisierten Zuständen könnte man der Thermalisierung ein Schnippchen schlagen. Diese Zustände behalten ihr lokales Gedächtnis und könnten zur Speicherung von Quanteninformation benutzt werden.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/nachrichten/2016/quantenweg-ins-thermische-gleichgewicht/