„Das Neutrino ist ein sehr wichtiges Teilchen“

Auch die zweite Phase des GERDA-Experiments liefert keine Hinweise darauf, dass Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen sind.

Franziska Konitzer

Eine zylinderförmige Anordnung aus Germaniumdetektoren wird durch einen Schacht in flüssiges Argon herabgelassen, Bildquelle: M. Heisel, GERDA collaboration; Lizenz: gemäß den Bedingungen der Quelle

Die Frage, ob Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen sind, beschäftigt Wissenschaftler seit Jahrzehnten. Klären ließe sie sich durch den Nachweis eines extrem seltenen radioaktiven Zerfalls, des neutrinolosen doppelten Betazerfalls. Das GERDA-Experiment im italienischen Laboratori Nazionali del Gran Sasso 1400 Meter unter der Erde soll diesen Zerfall mithilfe von Germaniumdetektoren aufspüren. Im Fachmagazin „Nature“ präsentierten Wissenschaftler nun die Ergebnisse der zweiten Phase des Experiments. Demnach gelangen zwar erstmals Messungen, die völlig frei von Störsignalen sind, allerdings gibt es bisher keine Anzeichen des neutrinolosen doppelten Betazerfalls. Welt der Physik sprach darüber mit dem beteiligten Wissenschaftler Peter Grabmayr von der Universität Tübingen.

Welt der Physik: Wie hängen Neutrinos mit dem Betazerfall zusammen?

Peter Grabmayr: Das Neutrino im normalen Betazerfall wurde ursprünglich vom Nobelpreisträger Wolfgang Pauli postuliert – in seinem berühmten Brief an die „radioaktiven Damen und Herren“ in Tübingen. Darin führte er das Neutrino als Elementarteilchen ein, weil das Energiespektrum des Betazerfalls sonst nicht erklärt werden konnte. Wenn in einem Atomkern ein Neutron, das schwerer ist als ein Proton, sich in ein Proton umwandelt, werden ein Elektron und ein Antineutrino emittiert. Man kann aber nur das Elektron nachweisen, weil Neutrinos fast gar nicht mit Materie wechselwirken. Je mehr Energie dieses nicht nachweisbare Antineutrino mitnimmt, desto weniger Restenergie verbleibt dem Elektron.

Peter Grabmayr von der Universität Tübingen

Peter Grabmayr von der Universität Tübingen

Und was passiert beim doppelten Betazerfall?

Beim doppelten Betazerfall werden zwei Neutronen in zwei Protonen umgewandelt und dabei zwei Elektronen und zwei Antineutrinos erzeugt. Die Annahme lautet nun: Wenn der neutrinolose doppelte Betazerfall stattfindet, dann verlässt kein Neutrino den Kern und man hat nur die beiden Elektronen. Dann muss die Energie dieser beiden Elektronen genau der Energiedifferenz zwischen Anfangs- und Endzustand des Atomkerns entsprechen. Deshalb ist dieser Energiewert scharf definiert, und wir würden eine sehr scharfe Linie bei einer bekannten Energie messen. Das ist die Signatur.

Was würde es bedeutet, wenn es diesen Zerfall wirklich gibt?

Wir könnten damit nachweisen, dass das Neutrino sein eigenes Antiteilchen ist. Wir glauben, dass es zu jedem Materieteilchen ein Antiteilchen gibt. Ein bekanntes Beispiel sind Elektronen und Positronen. Am Forschungszentrum CERN erforscht man Protonen und Antiprotonen. Die wesentliche Eigenschaft ist die Ladung: Das Elektron ist negativ geladen, das Positron ist positiv geladen. Das Proton ist positiv geladen, das Antiproton ist negativ geladen. Aber das Neutrino hat keine Ladung. Wenn es sein eigenes Antiteilchen ist, dann wäre das etwas ganz Spezielles.

Wie lässt sich dieser seltene Betazerfall nachweisen?

Man kann den doppelten Betazerfall mithilfe von Germaniumdetektoren nachweisen. Diese Detektoren müssen sehr gut von ihrer Umgebung abgeschirmt sein, da beispielsweise Myonen – die durch die kosmische Strahlung aus dem Weltall entstehen – die Messungen stören und eine Art Untergrundrauschen erzeugen. GERDA verwendet zur Abschirmung dieses Untergrundes das Edelgas Argon im flüssigen Zustand. Gleichzeitig kühlt dieses flüssige Argon die Detektoren, die bei minus 180 Grad Celsius betrieben werden. Im Experiment sind die Detektoren an dünnen Fäden in 64 Kubikmetern flüssigem Argon aufgehängt. Dieser Kryostat selbst steht noch einmal in einem Wassertank. Die gesamte Anordnung befindet sich im Gran-Sasso-Massiv, 1400 Meter unter der Erde. Das alles sind Maßnahmen zur Abschirmung, denn der Berg selbst schirmt auch schon Myonen aus der kosmischen Strahlung ab. Die restlichen Myonen erzeugen ein charakteristisches Licht, wenn sie den Wassertank durchqueren, wodurch wir sie entdecken und ihr Störsignal herausfiltern können. Trotzdem verbleibt ein Rest dieses Untergrunds. Der Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Phase des Experiments ist nun, dass wir neben dem Wasser auch das flüssige Argon selbst instrumentierten und verwenden, um die noch verbleibenden Untergrundreaktionen herauszufiltern. So konnten wir diese Störsignale auf das absolute Minimum reduzieren.

Ein Wissenschaftler, mit großen Handschuhen ausgestattet, arbeitet innerhalb einer Box am Germaniumdetektor des GERDA-Experiments.

Arbeit am GERDA-Detektor

Was war das Ergebnis der Messungen?

Unsere Anstrengungen führten dazu, dass wir innerhalb der Phase II die Störsignale des Untergrunds um das Zehnfache gegenüber der Phase I verringert haben. Verglichen mit älteren Experimenten stellt das eine hundertfache Verbesserung dar. Damit wurde die Sensitivität des Experiments gesteigert und somit die Suche nach dem Zerfall wieder spannend.

Aber auch in der zweiten Phase fehlt jede Spur vom neutrinolosen doppelten Betazerfall. Wie lässt sich das in Zahlen ausdrücken, wie selten muss dieser Zerfall also sein, wenn es ihn tatsächlich gibt?

Ein radioaktiver Zerfall wird über die Halbwertszeit charakterisiert. Diese Halbwertszeit können wir nicht als einen Wert angeben, sondern wir können nur sagen, dass sie länger als ein bestimmter Wert ist. Mit der zweiten Phase des GERDA-Experiments haben wir herausgefunden, dass die Halbwertszeit mit einer Wahrscheinlichkeit von neunzig Prozent größer als 5 × 1025 Jahre ist. Zum Vergleich: Das Universum ist etwa 1013 Jahre alt.

Was sind nun die nächsten Schritte für GERDA?

Wir wollen die vorhandene Apparatur voll ausschöpfen und unsere Messungen weiterführen. Wir wollen erreichen, dass wir innerhalb der gesamten Messzeit von drei Jahren kein einziges Störsignal mehr in dem Energiebereich finden, in dem wir das Signal des neutrinolosen doppelten Betazerfalls erwarten.

Hat es Sie überrascht, dass sich dieser Zerfall noch nicht nachweisen ließ?

Wir würden sehr gerne eine Linie sehen, die auf den neutrinolosen doppelten Betazerfall hindeutet, und somit eine Zahl – also eine konkrete Halbwertszeit – festlegen können. Dann könnten wir den Theoretikern diese Zahl geben und deren Modelle testen. So arbeitet man nur mit den Grenzwerten, mit denen man vielleicht ein paar Modelle ausschließen kann. Aber zunächst feiern wir eigentlich, dass wir in unseren Messungen das Störsignal des Untergrunds um das Zehnfache verringern konnten. Das ist der wirkliche Fortschritt.

Glauben Sie daran, dass es diesen Zerfall gibt?

Das ist tatsächlich noch eine Frage des Glaubens – ich glaube ja. Das Neutrino ist schon ein sehr wichtiges Teilchen – auch, weil es so häufig vorkommt. In Karlsruhe wird derzeit versucht, die Masse des Neutrinos mithilfe des KATRIN-Experiments zu bestimmen. Auch dort kämpfen die Forscher mit dem störenden Untergrund und wollen diesen reduzieren. Aber alle unsere Methoden, um Teilchen nachzuweisen, funktionieren eigentlich nur gut für Teilchen, die auch eine Ladung haben. Deshalb sind Teilchen, die keine Ladung besitzen, schwierig. Das war beim Neutron auch schon so. Prinzipiell lautet die Frage, ob unsere Vorstellung von der Natur wirklich stimmt, denn wir müssen immer mit Modellen arbeiten und wissen nicht, was das Wahre ist. Eine Messung liefert ein Ergebnis, und dieses Ergebnis ist der Schätzwert für den wahren, unbekannten Wert. Wir als Forschungsverbund GERDA hoffen also, dass wir den neutrinolosen doppelten Betazerfall mit der gesteigerten Sensitivität bald finden, weil man dann natürlich weitere Methoden entwickeln kann, um die Eigenschaften des Neutrinos und vor allem seine Masse endlich genauer zu bestimmen.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/nachrichten/2017/das-neutrino-ist-ein-sehr-wichtiges-teilchen/