„Materiezustände wie unmittelbar nach dem Urknall“
Jana Harlos
Lange Zeit glaubten Physiker, mit Atomen die kleinsten Bausteine der Materie gefunden zu haben. Experimente zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigten allerdings, dass Atome aus einer negativ geladenen Elektronenhülle und einem positiv geladenen Kern bestehen. Während es sich bei Elektronen um Elementarteilchen handelt, setzen sich die Protonen und Neutronen im Atomkern wiederum aus noch kleineren Materiebausteinen zusammen – den sogenannten Quarks. Im Experiment ALICE am Forschungszentrum CERN untersuchen Physiker diese Elementarteilchen unter anderem mithilfe von Proton-Proton-Kollisionen. In der Fachzeitschrift „Nature Physics“ stellten sie nun ihre neuen Ergebnisse vor. Welt der Physik sprach darüber mit Alexander Kalweit vom CERN.
Welt der Physik: Gibt es unterschiedliche Quarks?
Alexander Kalweit: Die Materie, die uns umgibt, besteht unter anderem aus Protonen und Neutronen, die aus sogenannten Up- und Down-Quarks zusammengesetzt sind. Drei Quarks bilden immer ein Proton beziehungsweise Neutron. Es treten allerdings auch andere Quarks auf: Die sogenannten Strange-Quarks sowie die Charm-, Bottom- und Top-Quarks. Materie, die sich aus diesen Quarks bildet, ist allerdings so kurzlebig, dass wir sie in unserer normalen Umgebung nicht beobachten können.
Wie verbinden sich die Quarks zu Materieteilchen?
Quarks treten immer zu zweit oder zu dritt auf. Binden sich drei Quarks, bezeichnet man die Teilchen als Baryonen. Mesonen hingegen sind Bindungen aus zwei Quarks – aus einem Quark und seinem Antiteilchen. Die Quarks tragen nicht nur eine elektrische Ladung, sondern auch eine sogenannte Farbladung. Sie können rot, grün oder blau sein, wobei das nur eine hypothetische Eigenschaft ist – also nicht vergleichbar mit der Farbe von Licht. Teilchen bilden immer farbneutrale Zustände: In einem Baryon sind alle drei Farben gebunden und Farbe und Antifarbe in einem Meson.
Können einzelne Quarks beobachtet werden?
Leider nicht. Das ist eine fundamentale Eigenschaft der Natur die sich „Confinement“ nennt. Im Experiment können wir Quarks nicht frei beobachten, sondern nur in ihrem gebunden Zustand. Eines der physikalischen Ziele von ALICE ist es, kurzfristig Materiezustände zu erzeugen, in denen die Quarks nicht gebunden sind – in einem sogenannten Quark-Gluon-Plasma. Das Quark-Gluon-Plasma wird manchmal als Ursuppe bezeichnet, die einem Zustand ganz kurz nach der Entstehung des Universums gleichkommt, in der sich die Quarks noch nicht in Materie gebunden haben.
Wie kann man sich ein Quark-Gluon-Plasma vorstellen?
In einem gewöhnlichen Plasma bewegen sich Elektronen frei von einem Atomkern. In einem Quark-Gluon-Plasma lassen sich dagegen die Quarks nicht den einzelnen Baryonen oder Mesonen zuordnen. Stattdessen können sie sich für einen kurzen Zeitraum frei bewegen. Da dieser Zustand so kurzlebig ist, binden sich die Quarks im Experiment wieder in Mesonen beziehungsweise Baryonen, bevor sie den Detektor erreichen. Zum Zeitpunkt des Nachweises ist das Plasma also nicht mehr existent. Doch vergleichbar mit einem Autounfall, kann man aus den Spuren auf den Zustand der Kollision zurückschließen.
Was sind das für Spuren?
Im Experiment kollidiert Materie miteinander, die nur aus Up- und Down-Quarks besteht. Durch die extrem hohen Energien, die bei der Kollision freigesetzt werden, entstehen auch Quarks der anderen vier Sorten. Diese zunächst freien Quarks binden sich in Baryonen und Mesonen und erreichen schließlich den Detektor. Dort schauen wir dann unter anderem, wie viele der Teilchen enthalten Strange-Quarks und wie viele nicht.
Warum beobachten sie ausgerechnet die Strange-Quarks?
Über diese Quarks lassen sich Rückschlüsse auf die Kollision beziehungsweise auf das kurzlebige Quark-Gluon-Plasma ziehen. Das Verhältnis der Teilchen mit und ohne Strange-Quarks ist bei Kollisionen von Bleikernen schon sehr lange bekannt. In unseren Experimenten haben wir nun bestimmte Proton-Proton-Kollisionen untersucht. Treffen die Protonen direkt aufeinander und streifen sich nicht nur, wird besonders viel Energie freigesetzt. Bei genau diesen Ereignissen haben wir beobachtet, dass dieses Verhältnis dem von Experimenten mit Bleikernen entspricht.
Ist das überraschend?
Es gibt eigentlich keinen Grund dafür, warum bei Proton-Proton-Kollisionen das gleiche Verhältnis gemessen wird wie bei Blei-Blei-Kollisionen. Kollidieren Bleikerne miteinander, entstehen auf sehr engem Raum viele neue Teilchen, die wieder miteinander kollidieren. Man kann sich das wie einen Billardtisch vorstellen, auf dem tausend Kugeln liegen. Stößt man eine Kugel an, prallt diese mit vielen anderen zusammen. Eine Proton-Proton-Kollision lässt sich dagegen eher mit einigen wenigen Billardkugeln auf dem Tisch vergleichen. Stößt man eine Kugel an, trifft sie vielleicht eine andere Kugel, vielleicht aber auch nicht. Wir haben nun überraschenderweise beobachtet, dass auch bei Proton-Proton-Kollisionen ähnlich viele Teilchen wie bei Experimenten mit Blei entstehen.
Wurde das schon von theoretischen Modellen vorhergesagt?
Man hat sich diese Fragen theoretisch noch nicht im Detail gestellt, da die experimentellen Daten noch nicht existierten. Der Ball ist jetzt bei den Theoretikern, um genau zu verstehen, welche Mechanismen bei den Kollisionen eine Rolle spielen. Wir wissen auch noch nicht, ob auch bei diesen Proton-Proton-Kollisionen ein Quark-Gluon-Plasma entsteht. Es gibt viele Hinweise darauf, aber noch keinen eindeutigen Beweis.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/nachrichten/2017/materiezustaende-wie-unmittelbar-nach-dem-urknall/