„Wir haben das Elektron perfekt beschrieben“
Jana Harlos
Bereits seit etwa hundert Jahren können Physiker die quantenmechanischen Eigenschaften von kleinsten Materieteilchen theoretisch beschreiben. Diese aber experimentell zu beobachten, ist sehr schwer. Denn jedes Experiment beeinflusst die quantenmechanischen Zustände. Mithilfe von ultraschnellen Lichtblitzen ist es Forschern nun gelungen, den Zustand eines ungebundenen Elektrons zu vermessen, wie sie im Fachjournal „Science“ berichten. Welt der Physik sprach mit Marc Vrakking vom Max-Born-Institut für Nichtlineare Optik und Kurzzeitspektroskopie in Berlin über die neuen Ergebnisse.
Welt der Physik: Wie beschreibt man in der Quantenmechanik das Verhalten von Atomen, Molekülen oder Elektronen?
Marc Vrakking: Durch sogenannte Wellenfunktionen. Der Zustand eines Quantenteilchens wird dabei durch bestimmte Eigenschaften charakterisiert, beispielsweise seine Energie. Ein Elektron, das in einem Atom gebunden ist, nimmt nur diskrete Energiewerte an. Eine weitere Eigenschaft eines gebunden Elektrons ist der Drehimpuls, also seine Bewegung um den Atomkern. Abhängig von ihrer Energie können sich die Elektronen in keulen- und kugelförmigen Raumbereichen – den Orbitalen – um den Atomkern aufhalten und bewegen. Insgesamt benötigt es vier bis fünf solcher messbarer Größen, um ein gebundenes Elektron zu beschreiben. Kennt man den Wert all dieser sogenannten Quantenzahlen, kann man ein System vollständig mathematisch beschreiben.
Kann man diese Quantenzahlen direkt messen?
Jein. Beobachtet man in einem Experiment ein quantenmechanisches System, verändert man eigentlich immer seine Wellenfunktion. Man kann beispielsweise einem Elektron mithilfe eines Lasers so viel Energie zuführen, dass es das Atom verlassen kann und von einem Detektor gemessen wird. Das Problem ist aber, dass die Wechselwirkung des Laserlichts und des Elektrons die Wellenfunktion wesentlich beeinflusst. Die Wellenfunktion gibt die Wahrscheinlichkeit an, ein bestimmtes Ergebnis zu messen, nachdem man ein Experiment etliche Male wiederholt hat. Da jede einzelne Messung aber nur ein einziges Ergebnis liefert, lässt sich daraus nicht direkt die Wellenfunktion ableiten.
Welche Teilchen haben Sie in Ihren Experimenten beobachtet?
Allgemein sind wir daran interessiert, elektronische Zustände von verschiedenen Systemen besser zu verstehen, da elementare Prozesse in der Elektronik und Kommunikationstechnik durch das Verhalten von Elektronen bestimmt werden. Dafür möchten wir die Eigenschaften von Elektronen in Atomen, in Molekülen und in Festkörpern besser untersuchen und beschreiben. In diesem Fall haben wir Experimente an Atomen durchgeführt. Mithilfe von Laserlicht haben wir den Atomen so viel Energie zugeführt, dass ein Elektron freigesetzt wurde. Dieses Elektron wollten wir perfekt beschreiben. Das heißt, wir wollten alle Quantenzahlen des Elektrons messen.
Wie haben Sie das experimentell umgesetzt?
In unserem Experiment an der japanischen Waseda-Universität in Tokio haben wir uns auf ein bestimmtes Elektron in Neonatomen konzentriert. Mit extrem ultraviolettem sowie infrarotem Laserlicht ionisierten wir das Atom, haben also jeweils ein Elektron freigesetzt. Dieses freie Elektron kann nun jeden positiven Energiewert annehmen und hat zudem einen Drehimpuls. Der Drehimpuls kann, aufgrund des experimentellen Aufbaus, vier verschiedene Werte annehmen. Der Zustand entspricht dann einer Superposition dieser vier möglichen Drehimpulse, die mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten angenommen werden. Mithilfe von Interferenzexperimenten ist es uns gelungen, unter anderem diese Wahrscheinlichkeiten zu messen. Damit ist die vollständige Wellenfunktion des freien Elektrons ermittelt und wir können auch auf den Zustand des zuvor gebundenen Elektrons zurückschließen.
Wodurch zeichnet sich Ihr Experiment besonders aus?
Theoretisch werden quantenmechanische Zustände schon seit sehr vielen Jahren beschrieben, aber experimentell ist das bis jetzt nur sehr selten gelungen. Wir konnten nun die Wellenfunktion eines freien Elektrons vollständig ermitteln, was üblicherweise sehr schwierig ist und noch nicht oft möglich war. Das Spannende dabei ist, dass wir mit Attosekundenpulsen gearbeitet haben. Diese Lasertechnologie gibt es seit etwa 15 Jahren, ist also noch relativ neu. Deshalb sind Attosekunden-Experimente normalerweise auch noch eine große Herausforderung. Und wir konnten zeigen, dass das Experiment durch diese schwierige Technologie wesentlich einfacher wurde.
Wie meinen Sie das?
In einem sogenannten Doppelspaltexperiment beobachtet man beispielsweise Quantenteilchen, die durch zwei verschiedene Spalten laufen können. Weiß man nicht, welchen Spalt ein Teilchen durchflogen hat, verhält es sich, als hätte es beide gleichzeitig passiert – und auf einem Schirm dahinter lässt sich ein Interferenzmuster beobachten. Weiß man, durch welchen Spalt das Teilchen geflogen ist, treten keine Interferenzeffekte auf. Auch wenn man in anderen quantenmechanischen Experimenten den Weg von Teilchen untersucht, die von herkömmlichem Laserlicht beeinflusst wurden, verschwindet das Interferenzmuster fast immer. Für Attosekundenpulse verhält sich das allerdings anders: Um einen Puls mit einer Länge von einigen Hundert Attosekunden zu erzeugen, benötigt man Licht eines sehr großen Wellenlängenbereichs. Experimentiert man mit diesem Licht, schafft man so viel Unwissenheit, dass sehr häufig Interferenzen auftreten. In unserem Experiment waren diese Interferenzeffekte notwendig, um die Quantenzahlen zu messen.
Was sind nächste Schritte Ihrer Forschung?
Mit den japanischen Kollegen haben wir die Wellenfunktion eines freien Elektrons bestimmt. Darauf aufbauend haben wir Ideen gesammelt, um auch die Wellenfunktion eines gebunden Elektrons zu bestimmen. Das ist zwar viel schwieriger, aber ich hoffe, dass solche Experimente in den nächsten Jahren hier am Max-Born-Institut durchgeführt werden.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/nachrichten/2017/wir-haben-das-elektron-perfekt-beschrieben/