„An den Grenzen des technisch Machbaren“
Franziska Konitzer
In jedem Kubikzentimeter des Raumes befinden sich durchschnittlich etwa 336 Neutrinos. Neben Lichtquanten sind Neutrinos damit die häufigsten Elementarteilchen im Universum. Postuliert in den 1930er-Jahren, gelang der Nachweis dieses Teilchens erstmals Ende der 1950er-Jahre. Seither gab es bereits vier Physiknobelpreise für Entdeckungen rund um das Neutrino – zuletzt 2015 für den Beleg, dass diese Elementarteilchen eine Masse besitzen müssen. Wie viel Neutrinos wiegen, ist bislang allerdings eine offene Frage. Mit dem Experiment KATRIN wollen Wissenschaftler nun Antworten finden. Nach über 15-jähriger Bauzeit geht die Neutrinowaage am Karlsruher Institut für Technologie nun in Betrieb. Welt der Physik sprach mit dem beteiligten Wissenschaftler Guido Drexlin.
Welt der Physik: Warum ist es so wichtig, die Masse eines Neutrinos zu kennen?
Guido Drexlin: Das Standardmodell der Teilchenphysik wurde vor inzwischen fast einem halben Jahrhundert aufgestellt. Es beschreibt alle Elementarteilchen und wie sie miteinander wechselwirken. Diese Theorie wurde bislang noch durch kein Teilchen und durch keine Reaktion infrage gestellt – außer durch die Neutrinos.
Können Sie das erläutern?
Nun, wir wissen eigentlich schon seit Jahrzehnten, dass Neutrinos eine sehr kleine Masse haben müssen. Kurz nachdem Neutrinos erstmals als Elementarteilchen beschrieben wurden, haben Forscher spekuliert, dass man ihre Masse über einen bestimmten Kernzerfall messen könnte. Aber das Standardmodell der Teilchenphysik hat daraufhin postuliert, dass Neutrinos exakt masselos sein müssen. In den 1980er- und 1990er-Jahren gab es dann eine große Überraschung: Es stellte sich heraus, dass Neutrinos tatsächlich eine Masse besitzen müssen. Im Vergleich zu anderen Teilchen ist diese Masse wahrscheinlich sehr klein. Aber das eigentliche Problem ist, dass Neutrinos fast überhaupt nicht mit anderer Materie wechselwirken. Deshalb ist es extrem schwierig, sie zu untersuchen. Um Klarheit zu schaffen, haben wir 2001 damit begonnen, das Experiment KATRIN zu planen.
Wie lassen sich Neutrinos mit KATRIN wiegen?
KATRIN misst die Neutrinomasse nicht direkt. Stattdessen untersuchen wir Elektronen, die beim Betazerfall von Tritium – einem instabilen Wasserstoffisotop – entstehen. Aus jedem Zerfall gehen ein Elektron und ein Neutrino hervor, die sich die Zerfallsenergie von 18 600 Elektronenvolt teilen. In seltenen Fällen bekommt das Neutrino gar keine Bewegungsenergie ab, während fast die gesamte Energie an das Elektron geht – aber eben nur fast. Denn gemäß Einsteins berühmter Formel E = mc2 erhält das Neutrino zumindest die Energie für seine Ruhemasse. Unsere Frage lautet nun, wie viel der maximal möglichen Energie von 18 600 Elektronenvolt das Elektron an das Neutrino abgeben muss. Indem wir die Geschwindigkeiten der Elektronen messen und so auf deren Energie schließen, wollen wir diese Frage mit KATRIN beantworten.
Was ist die technische Herausforderung dabei?
Über diesen Ansatz messen wir das Quadrat der Masse, also das m2 aus Einsteins Formel. Das klingt zunächst trivial, wird aber schnell eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Wir wollen die Neutrinomasse zehnmal genauer bestimmen als bisherige Experimente dies gekonnt hätten. Das heißt aber vonseiten der Technik, dass diese hundertmal besser sein muss als alles, was es bisher auf der Welt gab! Wir sind während des Baus von KATRIN deshalb wirklich oft an die Grenzen des technisch Machbaren gegangen – und manchmal sogar ein bisschen darüber hinaus. Aber das macht natürlich auch Spaß.
KATRIN startet heute mit den ersten Messungen. Was passiert dabei genau?
In den letzten Tagen vor dem Start haben wir darauf geachtet, dass wirklich alles funktioniert. Bis jetzt sind wir damit sehr zufrieden – vor allem, weil wir so eine lange Zeit für den Aufbau benötigt haben. Und nun fangen die Messungen an. Schon am Anfang werden wir sehr viele Daten gewinnen, aber wir müssen tatsächlich fünf Jahre lang messen, bis wir unsere gewünschte Genauigkeit erreicht haben.
Wie geht es danach mit KATRIN weiter?
Wir beobachten jetzt nur den äußersten Teil des Energiespektrums bei 18 600 Elektronenvolt – untersuchen also nur einen Bereich von wenigen Elektronenvolt um diesen Endpunkt herum. Da ist die Elektronenrate sehr klein und genau dafür ist unser Detektor ausgelegt. Viele Kollegen vergleichen das mit einem Rinnsal, das wir hinter einem Staudamm betrachten. Hinter dem Staudamm aber liegt ein riesiges Reservoir: Würden wir uns das gesamte Energiespektrum anschauen, hätten wir pro Sekunde viele Milliarden Elektronen. In Zukunft wollen wir auch diese Elektronen untersuchen.
Was ließe sich damit herausfinden?
Wir wollen damit beispielsweise nach einer völlig neuen Art von Neutrino suchen: den sogenannten sterilen Neutrinos. Bislang sind diese Teilchen noch nie beobachtet worden. Dafür müssen wir allerdings einen neuen Detektor bauen. Wir untersuchen dafür derzeit bereits Prototypen. Der Plan sieht momentan vor, dass wir mit KATRIN zunächst fünf Jahre lang messen und dann eine einjährige Messpause einlegen. In dieser Zeit würde ein neuer Detektor eingebaut, mit dem wir dann noch einmal mindestens drei Jahre lang messen.
Haben Sie einen persönlichen Tipp für die Masse des Neutrinos?
Tatsächlich habe ich mir eine solche Masse vor vielen Jahren schon einmal aufgeschrieben. Aber ich zeige sie niemandem. In den vergangenen fünfzig Jahren haben uns die Neutrinos immer wieder überrascht. Es hat sich sehr oft herausgestellt, dass die Theoretiker mit ihren Vorhersagen grob falsch lagen. Deshalb sollte man prinzipiell für alle Massenbereiche offen sein. Wir gehen zwar davon aus, dass wir mit KATRIN ein Signal messen werden – aber wie genau das ausschaut, können wir jetzt noch nicht wissen.
Aber es lässt sich mit Sicherheit sagen, dass Neutrinos nicht masselos sind. Was bedeutet das für das eigentlich so erfolgreiche Standardmodell der Teilchenphysik?
Eigentlich kann man die Neutrinomasse nur mit dem Standardmodell in Einklang bringen, indem man neue Teilchen einführt. Manche Kollegen denken aber auch, dass Neutrinos ihre Masse über einen anderen Mechanismus erhalten als alle anderen Teilchen. Wie ein solcher Mechanismus aussehen könnte, weiß man aber nicht – denn im Standardmodell kommt er nicht vor. Klar ist, dass es bis jetzt niemand geschafft hat, die Neutrinomasse überzeugend mit dem Standardmodell zu verheiraten. Neben Phänomenen wie der Dunklen Energie und der Dunklen Materie zeigen uns Neutrinos ganz definitiv, dass es sehr viele und reichhaltige Prozesse jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik geben muss. Mit KATRIN begeben wir uns nun auf Spurensuche.
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Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/nachrichten/2018/an-den-grenzen-des-technisch-machbaren/