„Hervorragende Sensoren für die Gravitation“
Dirk Eidemüller
Wissenschaftler haben das erste Bose-Einstein-Kondensat im Weltall erzeugt. Dieser Materiezustand, der nur bei extrem tiefen Temperaturen entstehen kann, lässt sich für neuartige Gravitationsdetektoren und zum Test fundamentaler Fragestellungen nutzen, berichtet das Team nun in der Zeitschrift „Nature“. Welt der Physik sprach darüber mit Maike Lachmann von der Universität Hannover, die an dem Experiment mitwirkte.
Welt der Physik: Was ist das Besondere an einem Bose-Einstein-Kondensat – und warum wurde es bislang nur in irdischen Laboren erzeugt?
Maike Lachmann: Ein solches Kondensat – das der indische Physiker Satyendranath Bose und Albert Einstein bereits 1924 vorhergesagt haben – entsteht, wenn die Temperatur eines Ensembles aus Atomen fast den absoluten Nullpunkt erreicht. Das bedeutet, die Geschwindigkeit der Atome relativ zueinander wird sehr langsam. In der Quantenmechanik lässt sich jedes Teilchen durch eine individuelle Wellenfunktion beschreiben. Dementsprechend sind Atome nicht nur Teilchen, sondern auch Wellen. Bei höheren Temperaturen haben sie auch mehr kinetische Energie und eine dementsprechend kürzere Wellenlänge. Kühlt man eine Atomwolke nun extrem tief herunter, unter ein millionstel Grad über dem absoluten Nullpunkt, dann wird die Wellenlänge der Atome immer länger. Schließlich überlappen sich die Wellenfunktionen der Atome, sodass sich alle in einem einzigen Zustand beschreiben lassen. Dieser reagiert sehr empfindlich auf äußere Einflüsse.
Zu welchem Zweck haben Sie das Ganze nun im Weltall durchgeführt?
Auf der Erde gehorcht alles der Schwerkraft, auch kalte Atomwolken. Wenn man nun ein Bose-Einstein-Kondensat in einer Hochvakuumapparatur auf der Erde erzeugt, fallen die Atome wie ein Stein nach unten. Die Dauer, in der man mit dieser Wolke experimentieren kann, ist deshalb durch die Fallhöhe begrenzt. Selbst in Falltürmen wie dem 122-Meter-Turm in Bremen erreicht man nur für wenige Sekunden einen freien Fall in Schwerelosigkeit – oder wie wir sagen: Mikrogravitation. Im Weltall hingegen lassen sich sehr viel längere und auch präzisere Messungen durchführen. So eignen sich sogenannte Materiewellen-Interferometer mit Bose-Einstein-Kondensaten dank ihrer extremen Sensitivität für inertiale Kräfte hervorragend als Sensoren für die Gravitation.
Normalerweise nehmen Experimente zu Bose-Einstein-Kondensaten ein ganzes Labor in Anspruch. Für ihre Versuche haben Sie eine Apparatur entwickelt, die an Bord einer Forschungsrakete passt. Was waren die besonderen Schwierigkeiten dabei?
Wir haben sehr viel Arbeit in jedes Detail stecken müssen. Deshalb waren wir auch eine große Kollaboration, in die jedes Institut besondere Fähigkeiten eingebracht hat. Sie haben während des Starts nicht nur starke Vibrationen, sondern auch Beschleunigungen bis zum Zwölffachen der Erdanziehungskraft. Dabei war die Technik für das Ultrahochvakuum sowie für Laser und Radiowellen, mit denen wir die Atomwolke manipulieren, besonders herausfordernd. Außerdem mussten wir eine spezielle Software schreiben, mit der sich die Experimente automatisiert durchführen lassen. Denn eine Fernsteuerung per Funk wäre nicht durchgehend zu garantieren gewesen.
Wie schnell lässt sich so ein Bose-Einstein-Kondensat erzeugen?
Das geht erstaunlich schnell, weil man ja keine großen Körper kühlen muss, sondern nur eine winzige Atomwolke. Mit den Apparaturen in unserer QUANTUS-Kollaboration haben wir dafür neue Rekorde aufgestellt. Aus einem „Ofen“, der ungefähr Zimmertemperatur hat, strömen gut eine Milliarde Atome in das Ultrahochvakuum. Nach mehreren Kühlschritten von Laser- bis zu Verdampfungskühlung sind wir bereits im Bereich von Nanokelvin, also weniger als ein millionstel Grad über dem absoluten Nullpunkt angelangt. Das Ganze dauert gerade einmal zwei Sekunden. Dann haben wir uns jeweils angeschaut, wie sich das Kondensat bei verschiedenen Manipulationen verhält, und wieder ein neues Kondensat erzeugt. In den sechs Minuten freien Falls konnten wir insgesamt 81 verschiedene Experimente durchführen.
Diese Mission namens MAIUS-1 – für Materiewellen-Interferometrie unter Schwerelosigkeit – hat sich als großer Erfolg erwiesen. Haben Sie schon Nachfolgeprojekte geplant?
Unsere Rakete ist ja bereits 2017 vom Raumfahrtzentrum Esrange bei Kiruna in Nordschweden gestartet. Seitdem waren wir mit der Auswertung beschäftigt – und mit der Planung und Vorbereitung neuer Projekte. Bis 2021 sollen zwei weitere Forschungsraketen starten. Am schönsten wäre natürlich ein eigener Satellit, aber das wäre viel zu teuer. Unsere Raketen fliegen ja nicht in den Orbit, sondern bleiben unterhalb der Internationalen Raumstation und fallen dann – mit einem Fallschirm gebremst – wieder zurück auf die Erde. Wir haben aber bereits ein gemeinsames Projekt mit der NASA gestartet, bei dem wir Experimente zu Bose-Einstein-Kondensaten an Bord der Internationalen Raumstation durchführen wollen. Bei den kommenden Missionen wollen wir nicht nur wie bislang Rubidiumatome, sondern auch Kaliumatome nutzen. Durch den Vergleich des Verhaltens beider Atomspezies können wir bereits erste Tests der Universalität des freien Falls – Grundlage der Einsteinschen Relativitätstheorie – durchführen.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/nachrichten/2018/hervorragende-sensoren-fuer-die-gravitation/