Einstein und das Quantenchaos

Hans-Jürgen Stöckmann

Resonator

Nur im Wasserstoffatom laufen die Elektronen auf einfachen Bahnen um den Atomkern. Bereits für das Heliumatom mit zwei Elektronen sind die Bahnen chaotisch und lassen sich nicht mehr zuverlässig über längere Zeiten vorhersagen. Für Einstein war diese chaotische Bewegung von Elektronen in Atomen ein Argument gegen das von Bohr vorgeschlagene Quantenmodell der Elektronenhüllen. Doch hier irrte Einstein – die Überlegungen von Bohr lassen sich durchaus auf chaotische Systeme übertragen. Heute ist das Quantenchaos zu einem Forschungsgebiet geworden, das sogar für die moderne Mikroelektronik von Bedeutung ist.

Die Arbeiten Albert Einsteins aus dem Jahr 1905 haben unser gesamtes physikalisches Weltbild grundlegend verändert. Am bekanntesten ist wohl seine Spezielle Relativitätstheorie, die zu einem völlig neuen Konzept von Raum und Zeit führte. In einer anderen Arbeit des gleichen Jahres, für die Einstein später den Nobelpreis erhielt, entwickelte er die Theorie der Quantennatur des Lichts. Obwohl er damit zu den Vätern der Quantenmechanik zählt, stand er dieser Theorie äußerst skeptisch gegenüber und brachte immer wieder Einwände gegen sie vor.

Ein kleiner Kreis ist von einem großen, gestrichelt dargestelltem Kreis umgeben. Auf diesem Kreis ist eine stehende Welle eingezeichnet.

Bohrsches Atommodell

So auch in einem Vortrag, den Einstein am 11. Mai 1917 vor der Deutschen Physikalischen Gesellschaft in Berlin hielt. Zu diesem Zeitpunkt war das Bohrsche Atommodell gerade vier Jahre alt. Man stellte sich damals ein Atom wie ein kleines Planetensystem vor, bei dem die Elektronen um den Kern umlaufen. Im Gegensatz zu einem Planeten waren für ein Elektron aber nur ganz bestimmte Abstände vom Atomkern erlaubt. Die Bereiche dazwischen waren tabu. Niels Bohr schlug für das einfachste Atom, den Wasserstoff mit nur einem Elektron, eine Erklärung für diese Schalenstruktur vor.

Chaos im Atom

Im Bereich atomarer Abstände macht sich bemerkbar, dass Teilchen gleichzeitig immer auch Welleneigenschaften aufweisen. Für die Elektronen sind die typischen Wellenlängen (das heißt der Abstand von einem Maximum der quantenmechanischen Wellenfunktion zum nächsten) von der Größenordnung der Atomdurchmesser. Die Schalenstruktur lässt sich erklären, wenn man annimmt, dass auf einem vollen Umlauf gerade eine ganze Zahl von Wellenlängen Platz hat. Das Elektron läuft damit nicht mehr um, sondern führt auf dem Umfang eine Schwingung durch, ähnlich wie bei einer gezupften Saite. Charakteristisch für solche stehenden Wellen ist eine regelmäßige Abfolge von Schwingungsbäuchen, an denen die Auslenkungen maximal sind, und Schwingungsknoten, an denen die Auslenkung verschwindet.

Allerdings bewegen sich nur im Wasserstoffatom die Elektronen auf einfachen Bahnen. Bereits für das Heliumatom mit zwei Elektronen im Umlauf sind die Bahnen chaotisch und lassen sich nicht mehr zuverlässig über längere Zeiten vorhersagen. Hier setzte der Einsteinsche Einwand ein. Eine Quantisierung in der von Bohr vorgeschlagen Weise funktioniert nur für reguläre (also nicht-chaotische) Systeme, von allen Atomen also nur für das Wasserstoffatom. Damit kann dies nicht die richtige Beschreibung sein.

In der Tat erwies sich der von Bohr eingeschlagene Weg als Sackgasse, aus der die Physiker erst durch die Entwicklung der Quantenmechanik im folgenden Jahrzehnt durch Werner Heisenberg, Erwin Schrödinger und andere heraus fanden.

Einsteins Bemerkungen waren lange vergessen, als ein halbes Jahrhundert später Martin Gutzwiller zeigte, dass sich die Überlegungen von Bohr doch auf chaotische Systeme übertragen lassen. In diesem Punkt hatte Einstein also einmal Unrecht. Seitdem hat sich die Quantenmechanik chaotischer Systeme, etwas plakativ „Quantenchaos“ genannt, zu einem weltweit intensiv bearbeiteten Forschungsgebiet entwickelt.

Links ist ein Kreis abgebildet, in dem Kreis ist die Bahn eines Teilchens eingetragen, die ein regelmäßiges Muster bildet. Rechts ist ein Oval abgebildet, in dem ebenfalls die Bahn eines Teilchens eingezeichnet ist. Im Oval zeigt die Teilchenbahn keine regelmäßige Struktur.

Teilchen-Billard

Billard und Klangfiguren

Die Problematik chaotischer Systeme lässt sich bereits an einem einfachen Modellsystem erläutern, einem so genannten Billard. Darunter verstehen die Physiker ein einzelnes Teilchen, das sich innerhalb einer äußeren Begrenzung reibungsfrei bewegt und an den Wänden reflektiert wird. Für ein Kreisbillard lassen sich die Bahnen leicht vorhersagen, während sie in einem Billard von der Form eines Stadions völlig chaotisch verlaufen.

Links ist ein Kreis, rechts ein Oval abgebildet. In beiden Figuren symbolisieren Farben die Schwingungen von Mikrowellen. Der Kreis ist gleichmäßig von diesen Schwingungen ausgefüllt, während in der Mitte des Ovals weniger Schwingungen zu erkennen sind.

Schwingungsmuster in Mikrowellen-Resonatoren

Will man in Billards quantenmechanische Effekte sehen, so gibt es zwei Möglichkeiten. Zum einen kann man die Abmessung verkleinern bis hinunter auf ein tausendstel Millimeter oder kleiner. Dieses geschieht in Halbleitermikrostrukturen. Man kommt so zu den Quantenpunkten, die in der Mikroelektronik und Nanotechnik eine wichtige Rolle spielen. Zum anderen kann man anstelle von Materiewellen klassische Wellen verwenden, z.B. Mikrowellen. Da die Wellenlängen hier im Bereich von einigen Zentimetern liegen, sind auch die Abmessungen der Billards von dieser Größenordnung.

Den oberen Teil der Abbildung bildet ein Foto des Versuchsaufbaus. Auf ihm ist ein Sinusgenerator zu sehen, der an einen Lautsprecher angeschlossen ist. Dieser befindet sich unter einer waagerecht auf einem Ständer angebrachten Metallplatte. Sand auf der Metallplatte bildet ein Schwingungsmuster, die linke vordere Ecke der Metallplatte fehlt. Unter dem Foto sind jeweils zwei Abbildungen der Schwingungsmuster einer kreisförmigen und einer rechteckigen Platte, sowie einer rechteckigen Platte mit einer fehlenden Ecke wiedergegeben.

Chladnische Klangfiguren

Eine Alternative, mit der man den Unterschied zwischen regulären und chaotischen Strukturen schon im Klassenzimmer sichtbar machen kann, wurde bereits vor zweihundert Jahren von dem deutschen Physiker Ernst F. F. Chladni entdeckt. Er bestreute Metall- oder Glasplatten mit Sand und regte sie durch Anstreichen mit einem Violinbogen zu Schwingungen an. Dabei wird der Sand aus den Bereichen der Schwingungsbäuche vertrieben und sammelt sich in den Knotenlinien an. Heute verwendet man bei solchen Experimenten mit Chladnischen Klangfiguren statt eines Violinbogens oft einen Lautsprecher zur Anregung der Schwingungen.

Quantenpunkte und Mikrolaser

Von großem Interesse in der Mikroelektronik ist die Frage, in welcher Weise sich Elektronen durch Quantenpunkte bewegen. Die Messung an Quantenpunkten ist aus mehreren Gründen aufwändig: Die Abmessungen der Strukturen liegen typisch unter einem tausendstel Millimeter. Die Messungen müssen in der Regel in der Nähe des absoluten Nullpunkts durchgeführt, also dicht bei minus 273 Grad Celsius. Und schließlich: Selbst die heute hergestellten Materialien höchster Reinheit enthalten noch genügend Fehlstellen, um das Transportverhalten gründlich und unkontrollierbar zu stören.

Drei Abbildungen farbig dargestellter Schwingungsmuster in einer Struktur, die von der Form eines umgedrehten Topfes ist.

Mikrowellen-Quantenpunkt

Bei Experimenten mit Mikrowellen hat man solche Probleme nicht: Die Abmessungen liegen hier im Bereich von 10 bis 20 Zentimetern, die Messungen sind bequem bei Zimmertemperatur möglich und der Einfluss von Verunreinigungen lässt sich gezielt und kontrollierbar untersuchen. Mikrowellenexperimente liefern detaillierte Information auch über den Transport im Inneren von Quantenpunkten, was bei Versuchen mit realen Quantenpunkten in der Regel nicht möglich ist.

Insgesamt zwölf Bilder eines Ovals, auf dem farbig dargestellt jeweils zwei Schwingungspulse an unterschiedlichen Positionen zu erkennen sind.

Pulsausbreitung in einem Teflon-Resonator

Die moderne Mikroelektronik setzt zunehmend auf Strukturen, in denen optische und elektronische Elemente miteinander kombiniert werden. Dadurch ist auch ein Bedarf an miniaturisierten Lasern entstanden. Bei einer Variante zur Realisierung solcher Mikro-Laser werden kreisförmige Strukturen verwendet mit ähnlichen Abmessungen wie bei den Quantenpunkten. Sie senden in alle Richtungen gleichmäßig Licht aus. Häufig sind aber gezielte Abstrahlungen in ganz bestimmte Richtungen erwünscht. Zu diesem Zweck werden die Kreise ovalförmig deformiert. Damit lassen sich gerichtete Emissionen erzielen, die etwa um einen Faktor 1000 stärker sind als bei kreisförmigen Strukturen.

Auch hier sind Mikrowellenexperimente hilfreich, um das Abstrahlungsverhalten genauer zu verstehen. Mikrowellen verhalten sich in Teflon ganz ähnlich wie Licht in Glas. Messungen an Mikrowellen in Teflon liefern damit präzise Aussagen über die Mechanismen, die das Abstrahlungsverhalten in solchen Resonatoren bestimmen.

Mehr als 80 Jahre, nachdem Einstein die Vermutung aufstellte, chaotische Systeme ließen sich nicht quantisieren, stellt somit die Quantenmechanik chaotischer Systeme ein höchst aktuelles Forschungsgebiet dar, das sogar an vielen Stellen praktische Anwendungen liefert.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/quanteneffekte/quantenchaos/