„Ein kollektiver Effekt“
Dirk Eidemüller
Elektronen, die gemäß dem Standardmodell der Teilchenphysik zu den fundamentalen Bausteinen der Materie gehören, sind elektrisch geladene Teilchen. Eigentlich tragen sie eine negative Elementarladung – also die kleinste elektrische Ladung, die in der Natur vorkommt. Doch unter besonderen Umständen können sich Elektronen so verhalten, als ob sie keine ganze Elementarladung tragen, sondern nur einen Bruchteil davon. Im Interview mit Welt der Physik spricht Gabriel Aeppli von der ETH Zürich über diesen exotischen Effekt, den er nun mit einem internationalen Team an einem Metall nachgewiesen hat.
Welt der Physik: Wie kann es sein, dass ein Elektron nicht seine übliche Elementarladung aufweist?
Gabriel Aeppli: Normalerweise tragen alle Elektronen eine negative Elementarladung, die sie an die positiv geladenen Atomkerne bindet. In den Atomkernen wiederum sitzen die neutralen Neutronen und die positiv geladenen Protonen, die ebenfalls genau eine Elementarladung aufweisen. Wenn wir uns diese Bestandteile der Atome ansehen, dann sehen wir, dass sie alle entweder genau eine negative oder positive Elementarladung tragen – oder wie die Neutronen gar keine Ladung haben. Es kann aber in bestimmten Festkörpern passieren, dass die Elektronen auf einmal ein ungewöhnliches Verhalten zeigen, das mit sogenannten fraktionalisierten Ladungen, also aufgeteilten Ladungen, einhergeht.
Woran liegt diese Ladungsfraktionalisierung?
Der Grund liegt in speziellen Quanteneffekten, die in bestimmten Materialien auftreten können. In solchen Stoffen fließen die Elektronen nicht – wie etwa in einem gewöhnlichen Metall – als einzelne Ladungsträger frei durch das Material. Sondern sie treten miteinander sowie mit einem Magnetfeld in eine starke Wechselwirkung und verlieren dadurch ein Stück weit ihre Individualität. Man spricht auch von Kompositzuständen. In diesen sind die Elektronen sowohl mit anderen Elektronen verknüpft als auch mit dem magnetischen Feld des Materials. Nun sorgen die sonderbaren Gesetze der Quantenphysik dafür, dass sich unter solchen Bedingungen die Elektronen gleichzeitig in verschiedenen energetischen Zuständen aufhalten können, von denen einer die doppelte Ladung des anderen Zustands beinhaltet. Beide Zustände ergeben zusammenaddiert aber die Elementarladung des Elektrons. Daraus ergibt sich, dass der eine Zustand einer Ladung von einem Drittel der Elementarladung entspricht, der andere Zustand einer Ladung von zwei Dritteln. Man sieht also im Material elektronische Zustände mit Drittel- und Zweidrittelladungen.
Kann das auch für einzelne Elektronen passieren, die nicht mit anderen Elektronen verknüpft sind?
Als einzelnes Teilchen muss ein Elektron stets exakt eine komplette Elementarladung besitzen. Die Ladungsfraktionalisierung ist eben ein kollektiver Effekt. Wir sehen das auch bei den Messungen, die wir an der Universität Genf durchgeführt haben. Dort strahlen wir ultraviolettes Licht von einem Laser auf das Material und lösen dadurch Elektronen heraus. Dabei nutzen wir den photoelektrischen Effekt, für den Albert Einstein seinerzeit den Nobelpreis erhalten hat. Sobald die Elektronen den Festkörper verlassen haben, verhalten sie sich wieder ganz normal und tragen wieder ihre gewöhnliche Elementarladung. Es sind also nur die elektromagnetischen, quantentypischen Wechselwirkungen, die eine scheinbare Aufspaltung der Ladung bewirken.
Gab es bereits früher ähnliche Messungen?
Das ist nun nicht das erste Mal, dass eine solche Ladungsfraktionalisierung experimentell nachgewiesen werden konnte. Der Effekt wurde bereits in den 1980er-Jahren entdeckt und einige Jahre später mit dem Nobelpreis bedacht. Allerdings hatte man damals mit Materialien aus sorgfältig aufeinandergesetzten Schichten sowie mit externen Magnetfeldern gearbeitet; gemessen wurden elektrische Widerstände und nicht Photoelektronen. Unser Team hat es nun geschafft, diesen Effekt in einem vergleichsweise einfachen Material und ohne externe Magnetfelder nachzuweisen – nämlich in einer Eisen-Zinn-Legierung.
Was ist das für ein Material?
In diesem Metall sind die Atome in einem dreieckigen Muster angeordnet, in einem sogenannten Kagome-Gitter. Außerdem ist das Metall ferromagnetisch, es bringt also bereits sein eigenes Magnetfeld mit, sodass wir kein externes Magnetfeld mehr benötigen. Nun ist dieses Material schon lange bekannt, und ebenso weiß man, dass es ungewöhnliche elektronische Eigenschaften aufweist. Zudem wurde schon vor 15 Jahren theoretisch vorhergesagt, dass in einem solchen Kagome-Material der Effekt der Ladungsfraktionalisierung auftreten könnte. Diesen Nachweis haben wir jetzt erbracht. Das Interessante an unseren Messungen ist auch, dass der Effekt zwar bei tiefen Temperaturen von ungefähr fünf Grad über dem absoluten Nullpunkt, der bei etwa minus 273 Grad Celsius liegt, auftritt. Aber das ist noch relativ warm im Vergleich zu den Materialien, für die der Nobelpreis vergeben wurde.
Lässt sich der Effekt auch technologisch nutzen?
Die Messungen machen Hoffnung, dass hier ein Material vorliegt, dass bei gut zugänglichen Bedingungen eine solche Ladungsfraktionalisierung zeigt. Allerdings ist es noch zu früh, um an eine konkrete Anwendung zu denken. Manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler halten einen Einsatz für das „topologische Quantencomputing“ für möglich. Aber vorher bleiben noch viele Fragen zu klären.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/quanteneffekte/quantenphaenomene-ein-kollektiver-effekt/