„Ein Wunder der Physik“

Dirk Eidemüller

Ein goldener, kastenförmiger Satellit im All, im Hindergrund ein Teil der Erde

CNES - Juilett 2012/Illust. D. Ducros

Das Äquivalenzprinzip ist ein grundlegendes Prinzip der Physik und besagt unter anderem, dass alle Körper im freien Fall gleich schnell beschleunigt werden. Auf diesem Prinzip aufbauend entwickelte Albert Einstein vor über hundert Jahren seine Relativitätstheorie. Ob das Prinzip tatsächlich gültig ist, haben Forscherinnen und Forscher bereits mit zahlreichen unterschiedlichen Experimenten überprüft – und keine Abweichungen gefunden. Der Test mit der bislang höchsten Genauigkeit gelang nun mit der Satellitenmission MICROSCOPE. Wie genau dieser Test funktioniert und was die Messung für die Forschung in der Physik bedeutet, berichtet Claus Lämmerzahl von der Universität Bremen im Interview mit Welt der Physik.

Welt der Physik: Was genau besagt das Äquivalenzprinzip?

Porträt des Wissenschaftlers Claus Lämmerzahl

Claus Lämmerzahl

Claus Lämmerzahl: Es ist eines der grundlegenden Prinzipien der Physik. Ihm zufolge gibt es keinen Unterschied zwischen schwerer und träger Masse. Das heißt: Wir können die Masse eines Körpers entweder bestimmen, indem wir seine Gewichtskraft in einem Gravitationsfeld messen – beispielsweise mit einer Waage hier auf der Erde. Oder wir können seine Masse bestimmen, indem wir ihn beschleunigen und dabei die Kraft messen, die wir zur Beschleunigung aufbringen müssen. Den beiden Begriffen der schweren und der trägen Masse liegen eigentlich zwei komplett unterschiedliche Definitionen zugrunde. Es ist ein Wunder der Physik, dass diese beiden Massebegriffe offenbar identisch sind. Und eine Konsequenz dieses Äquivalenzprinzips ist, dass alle Körper unabhängig von ihrer materiellen Zusammensetzung in einem Gravitationsfeld gleich beschleunigt werden.

Was bedeutet das?

Eine Eisenkugel fällt genauso schnell von einem Turm wie eine Holzkugel. Nur der Luftwiderstand kann für einen Unterschied in der Beschleunigung sorgen, wenn die Kugel erst einmal schnell genug ist. Aber im Vakuum fällt sogar eine Feder genauso schnell wie eine Eisenkugel. Deshalb bietet der freie Fall eine besonders gute Möglichkeit, das Äquivalenzprinzip zu testen: Man lässt zwei Körper frei fallen und vergleicht ihre Beschleunigung, wobei man dafür sorgen muss, dass möglichst wenig störende Einflüsse herrschen. Man benötigt also ein Vakuum und auch eine Abschirmung von elektrischen und magnetischen Feldern, da diese auch den freien Fall beeinflussen und dadurch Messfehler verursachen können. Ideal ist auch eine möglichst lange Fallzeit, um die Beschleunigung möglichst präzise zu messen. Denn nur so lassen sich auch winzige Unterschiede zwischen dem freien Fall von zwei Körpern feststellen.

Die MICROSCOPE-Mission hat das Äquivalenzprinzip nun mithilfe eines Satelliten genau überprüft. Warum führt man das Experiment im Weltraum durch?

In der Schwerelosigkeit des Weltraums haben wir gleich mehrere Vorteile. Einerseits befindet sich dort jeder Körper ständig im freien Fall. Das gilt aber nur näherungsweise, denn auch bei einer Satellitenmission muss man hin und wieder die Bahn korrigieren und dazu die Triebwerke einschalten. Denn auch im Weltall gibt es kein perfektes Vakuum, sondern noch einen minimalen Luftwiderstand. Andererseits stören im All keine seismischen Schwingungen wie auf der Erde den freien Fall. Somit kann man die Bewegung zweier Körper sehr viel präziser messen und vergleichen.

Wie ist das Experiment aufgebaut?

Das Experiment befindet sich in einem Satelliten, der die Erde umkreist und somit ihrer Schwerkraft ausgesetzt ist. An Bord befinden sich zwei Zylinder, wobei ein äußerer Zylinder einen inneren umschließt. Die Zylinder fliegen frei in einer Vakuumkammer und werden nur durch elektrostatische Felder in Position gebracht. Der Schwerpunkt der beiden Zylinder liegt jeweils exakt aufeinander. Das ist wichtig, da nur so auf beide Körper beim Flug die identische Schwerkraft der Erde wirkt und sie ihre relative Position zueinander nicht verändern. Jede winzige Abweichung können wir messen.

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An Bord des Satelliten befindet sich noch ein weiteres Zylinderpaar. Worin unterscheiden sich die beiden Instrumente?

Die beiden Experimente unterscheiden sich nur im Material: wir haben einen Platin- und einen Titanzylinder, sowie ein Paar aus zwei Platinzylindern. Etwas vereinfachend gesagt: Die beiden identischen Zylinder dienen zur Kontrolle, ob das Experiment wirklich funktioniert. Mit den beiden unterschiedlichen Zylindern testen wir das Äquivalenzprinzip – wie beim Beispiel des freien Falls einer Feder und einer Eisenkugel, nur sehr viel genauer.

Wie präzise ist Ihnen der Test des Äquivalenzprinzips gelungen?

Nach der Auswertung der Daten von gut anderthalb Jahren Messzeit können wir eine Abweichung vom Äquivalenzprinzip bis zur 15. Nachkommastelle ausschließen. Damit haben wir frühere Messungen, die auf der Erdoberfläche stattgefunden haben, um rund einen Faktor Hundert verbessert. Gegenwärtig können wir also bestätigen, dass Einsteins Annahme zur schweren und trägen Masse volle Gültigkeit besitzt. Das ist zunächst eine gute Nachricht. Denn dieses Prinzip ist eine zentrale Annahme von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie, welche die Existenz von Schwarzen Löchern, Gravitationswellen und vielen anderen Dingen vorhersagt.

Könnte das Äquivalenzprinzip dennoch verletzt sein?

Da die Allgemeine Relativitätstheorie nicht kompatibel mit der Quantenphysik ist, versuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler neue Ansätze zu entwickeln, die beide Theorien miteinander vereinen – in der sogenannten Quantengravitation. Einige dieser Ansätze sagen nun eine Verletzung des Äquivalenzprinzips voraus. Deswegen wird man noch präzisere Messungen benötigen, um hier eine Entscheidung herbeiführen zu können. Kommende Experimente sollten nochmal um einen Faktor Hundert bis Tausend genauer werden. Wir dürfen also gespannt bleiben, ob das Äquivalenzprinzip auch künftig so hervorragend bestätigt werden wird wie bei unserem Experiment.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/universum/aequivalenzprinzip-microscope-ein-wunder-der-physik/